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Auf dem Weg ins Bad musste ich durch den Essraum, klares Slipperterritorium. Zum Bad ging es einige
Stufen hoch und durch einen dunklen Holzflur. Ich öffnete die Tür des Badebereichs und sah noch zwei
Räume, einen zum Umkleiden und einen mit zwei Badewannen. Ich blickte lange in die Räume und war-
tete darauf, dass ein Japaner vorbeikommt. Es kam keiner. Also ging ich zum Essraum zurück und zog die
Tochter der Wirtin am Ärmel ihrer Yukata bis zur Tür des Herrenbaderaums. Sie dachte offensichtlich, sie
habe es mit einem Lustmolch zu tun, als ich die Tür öffnete und mit fragendem Gesichtsausdruck hinein-
zeigte. Doch dann zeigte ich auf meine Füße, sie lächelte und sagte mir, die Slipper sollte ich im Vorraum
lassen.
Sollte ich mir jetzt neues Wasser in die noch leere Edelstahlwanne einlassen oder in das vorhandene
Wasser steigen? Außer mir wohnten an diesem Abend noch eine Gruppe von Geschäftsleuten in der Volk-
sherbergesowiezweiGrüppchenvonJungenundMädchenimOberschulalter.Warendiejetztalleschonin
dem Wasser gewesen? Ich hielt mich an das, was ich in meiner Gastfamilie gelernt hatte: sich supergründ-
lich abschrubben und dann ins gemeinsame Wasser steigen. Hinterher sollten keine Schaumblase und kein
Härchen darauf schwimmen. Dann machte es auch nichts, dass hier schon sieben Leute durch waren. Ich
hoffte, dass ich als Fremder das Wasser nun nicht irgendwie spirituell verunreinigte.
Im Essraum saßen die Gäste auf etwas erhöhten Podesten mit Tatamimatten an niedrigen Tischen. Die
AbendmahlzeitwarimPreisinbegriffen:einStückgebratenerFisch,gedünstetesGemüse,Miso-Suppeund
eine Schale Reis.
An diesem Abend überkam es mich zum ersten Mal. Ich blickte den Reis an und war überwältigt von
seiner Schönheit. So intensive Gefühle gegenüber einem Nahrungsmittel sind vermutlich nur im begeister-
ungsfähigen Jugendalter möglich. Die lackierte Schale mit den glänzenden Reiskörnern, jedes einzeln
erkennbar, aber alle klebrig miteinander verbunden, aufgehäuft zu einem Berg, einem Mikrokosmos el-
liptoider Schönheiten. Ein Fuji-san. Und das hier war ein Billigessen in einer Herberge mit Studenten und
sparsamen Handelsvertretern.
Plötzlich kam mir meine eigene Kultur armselig und unterlegen vor. Ich verglich das reine Reisschalen-
kunstwerkimGeistemitdeutschenSättigungsbeilagen. Pommes,triefendvorSoße,aufeinemTeller.Oder
deutscher,nicht-klebrigerReis,dereinfachsoherumliegtundsichmitLeipzigerAllerleiundKrumeneines
panierten Fischfilets mischt. Am besten schnitten noch gekochte Kartoffeln ab, elegant mit Soße dekor-
iert. Doch all das kam mir plötzlich inkonsequent vor, unrein gegenüber der edlen Einfachheit von so einer
Schale Reis. Die Leute hier mischten ihnnicht mit Soßen,sondernhielten ihnvomübrigen Essen getrennt.
»Alles in Ordnung?«, holte mich die Stimme der Wirtin in die Realität zurück. Ich war wieder im
Speiseraum derHerberge.Plötzlich setzte auch derTonvondenanderen Tischen wieder ein, andenen sich
die Gäste unterhielten. Mir wurde klar, dass ich längere Zeit mit einer stinkgewöhnlichen Reisschale in der
Hand dagesessen und sie mit offenem Mund angestarrt hatte. »Alles klar«, sagte ich. Die Phrase hatte ich
bei Matsubaras oft gehört.
MeinZimmerchenwarvomnächstenGemeinschaftsraumnurdurcheinePapierschiebewandabgetrennt.
Das machte die Aufteilung flexibler. Aber deshalb waren auch alle Geräusche der Schülergruppe glasklar
zu hören.
Die Papierschiebewände funktionieren ausschließlich per gesellschaftlicher Übereinkunft, das hatte ich
bei Matsubaras verstanden. Alle Japaner glauben fest daran, dass Papier auf Schiebewänden keine Ger-
äusche durchlässt. Jemand mit japanischer Erziehung verhält sich also am nächsten Tag so, als ob es
keine Geräusche gegeben habe. Ich benahm mich daher am nächsten Morgen vermutlich mal wieder völlig
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