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Im Jahr 1995 stand der Yen zwar hoch, doch die Reise war gar nicht sonderlich teuer. Zum Frühstück aß
ich immer das gleiche Currybrötchen, das die Minimarktkette Lawsons anbot. Mittags bestellte ich beim
jeweils nächstgelegenen Nudelmann dicke Weizennudeln mit süßem Tofu, weil mein Sprachführer diese
Bestellung zufällig als Beispielsatz anbot: »Kitsune-Udon wo onegai shimasu.«
MeineBleibeinKiotogehörtenichtzumJugendherbergsverband,sondernwarals»Volksherberge«aus-
gewiesen - so japanisch wie es irgend geht. Ich hatte den Ort ziemlich suchen müssen und war dafür einige
KilometeraufeinereinsamenLandstraßeentlanggewandert.ZwischendurchfuhrenmehrereOmnibussean
mir vorbei. Ich würde nie erfahren, wo sie abfuhren. Links und rechts erstreckten sich Büsche, aus denen
Zikadengirrten.RiesigeFarneließenmichanUrzeitfilmedenken.Eshättemichgarnichtgewundert,wenn
zwischendurch ein Tyrannosaurus seinen Kopf aus dem Dickicht gestreckt hätte. Heiß genug war es jeden-
falls, und klebrig durch die hohe Luftfeuchtigkeit. Eine handtellergroße Libelle griff mich an und landete
in meinem Nacken. Unter den Rucksackriemen wurde mein T-Shirt klatschnass. Schweißtropfen fielen auf
den Stadtplan, den ich am Bahnhof gekauft hatte. Mir fiel auf, dass beide Flüsse, die ich überquerte, or-
dentlich in schnurgeraden Betonrinnen flossen.
Die Rezeption bestand nur aus einer Kasse neben dem Eingang. Nach einigem Rufen kam von hinten
eineFrauinSchürzehervor,fragte,obichder»Mayer«mitderReservierungsei,gabmirmeinenSchlüssel
und zeigte nach oben. Das Zimmer lag im ersten Stock. Ich griff meinen Rucksack und begann, die Treppe
hochzustapfen.
Ich brauchte bis zum ersten Treppenabsatz, bis ich die Geräusche hinter mir als Panikrufe der Wirtin
erkannt hatte. Schwerfällig drehte ich mich um und drohte dabei, eine Blumenvase mit dem Rucksack
umzufegen. Die Augen der Frau waren weit aufgerissen. Ihr Gesicht spiegelte eine eigentümliche Mis-
chung von Gefühlen wider, die ich später in Japan noch öfter sehen würde. Die Mundwinkel irgendwie zu
einem Lächeln hochgezogen, zeigte die Mitte des Gesichts zugleich Entsetzen vor dem grobschlächtigen
Ausländer, während ihr Blick ein ungläubiges Erstaunen ausdrückte. Sie machte nun kleine Fiepslaute und
zeigteabwechselndaufmeineschmierig-staubigenWanderschuheundeinSchuhregalamFußederTreppe.
»Oh«, sagte ich. »Oh-Oh-Oh.« Ich versuchte, die Stufen beim Hinuntergehen so wenig zu berühren wie
möglich,undstolpertedabeifastübermeineZehenspitzen.»Sumimasen,Sumimasen«,wiederholteichdie
Entschuldigung, die mir jetzt aus Langenscheidts praktischem Kurs wieder einfiel.
Ich zog meine Schuhe aus und stellte sie ins Schuh regal. Dabei fiel mir auf, dass die anderen Schuhe
alle so sauber und glatt aussahen, als wären sie neu. Nur meine waren schmutzig. Ich nahm einen zweiten
AnlauffürdieTreppe,diesmalinSocken.DieWirtinhieltmichabermalsauf,zogeinPaarSlipperausdem
Regal und bedeutete mir, sie anzuziehen. Es waren die größten, die sie hatte, und trotzdem etwas zu kurz.
Täuschte ich mich, oderhatte sie meinen schweißigen Socken einen etwas missbilligenden Blick zugewor-
fen?
Oben suchte ich meine Tür undfand einen Raum vonfünfTatami Größe, ausgestattet mit einem Fernse-
herundeinemAschenbecherdahinter.IchließmeinenRucksackfallen.NachdemDesasteraufderTreppe
zögerte ich, zum Gemeinschaftsbad hinunterzugehen. Was würde ich da noch alles falsch machen können?
Doch da ich meinen eigenen Schweiß riechen konnte, musste ich für die Japaner stinken wie ein Wasser-
büffel.
Die Tochter der Wirtin fing mich am Fuß der Treppe ab und begann, mir in gebrochenem Englisch die
verschiedenenZonenfürdieFußbekleidungzuerklären.»Sodummbinichnunauchwiedernicht«,dachte
ich. »Jetzt habe ich kapiert, dass man hier Hausschuhe trägt.«
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