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Wecken könne man ihn nicht, er sei ja schließlich Dauergast und noch dazu ein Ver-
wandter, so erklärte es uns die Empfangsdame und quartierte uns um drei Uhr nachts
unter zahlreichen Entschuldigungen in ein anderes Stockwerk um.
Wie groß übrigens der Familienzusammenhalt ist, bemerkt man daran, wie spät die
Portugiesen bei ihren Eltern ausziehen. Von Ausnahmen in der Großstadt und der un-
willig bezogenen Studentenbude für unter der Woche einmal abgesehen, fällt der Zeit-
punkt des Auszugs in Portugal mit dem der Hochzeit zusammen. Und die findet in der
Regel früh statt. Denn alle Welt wartet auf Kinder, die Kronprinzen des Märchenreichs.
Sie haben in Portugal alle Freiheiten, vor allem die Söhne. Ihnen wird alles verziehen,
sie werden verwöhnt von Anfang an. Und sei es nur, daß man in ländlichen Gebieten
manchmal aufmüpfigen Babys, die mit dem Schreien nicht aufhören wollen, den
Schnuller kurz in ein Glas Schnaps steckt.
Solche Bräuche erzählen etwas von der Lässigkeit, mit der die Portugiesen schwieri-
ge Lebenssituationen meistern. Aber noch viel tiefer liegt die Begeisterung, mit der sie
den festlichen Aspekten des Lebens begegnen. Nicht nur, daß das Leben an sich zu-
nächst einmal einen so hohen Wert hat, wie es sich Philosophiestudentinnen nach der
ersten Existenzialistenlektüre wünschen würden. Nein, es steht in seiner Fülle über al-
lem und, zum Leidwesen zahlreicher Unternehmer, auch über der Arbeit. Man ver-
säumt keine Gelegenheit, die Wechselfälle des Lebens mit kräftigen Feiern zu begehen,
sei es die Geburt, die Taufe, die Hochzeit oder der Tod. Aber auch abstruse Jubiläen
wie die ersten Schritte des Sohnes eines entfernten Cousins werden gefeiert. Das Leben
und seine Macht zeigen sich auch in Dingen des öffentlichen Lebens; die letzte Folge
der neuesten telenovela aus Brasilien, eine Fußball-Übertragung oder ein Straßenfest,
alles, aber auch alles scheint wichtiger als die Arbeit.
Ein portugiesischer Arbeiter formulierte es einmal in einem Buch wie folgt: »Die
Arbeit kann immer warten. Es gibt nichts auf der Welt, was nicht auch morgen oder
nächste Woche getan werden könnte.« Diese Einstellung brachte einst einen deutschen
Fabrikanten zur Verzweiflung. Er hatte versucht, seine Schuhproduktion in einer por-
tugiesischen Fabrik zu erhöhen, indem er seinen Arbeitern höhere Löhne für mehr
Einsatz versprach. Aber sie wollten alle gar keine höheren Löhne. Der Eingriff in ihr
Privatleben durch die Mehrarbeit wäre viel zu groß gewesen, also lehnten sie dankend
ab. Heute läßt der Mann seine Schuhe vorwiegend in Korea fabrizieren. Die Populari-
tät der gemäßigt konservativen Regierung unter Cavaco Silva ging nicht gerade ihrem
Höhepunkt entgegen, als bekannt wurde, daß diese mit der alten Tradition der drei-
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