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nachgrübelte. Wie würde es mit mir weitergehen, wenn mich die Sicherheitsbeamten in
Hakkari für einen Spion hielten? Keine Frage: Ich musste abhauen - und zwar schnell.
Als der Mond gegen Mitternacht hinter einer ausgedehnten Wolkenbank verschwand,
schaute ich noch einmal durch das Fenster in den Raum, wo die Soldaten hockten, und
vergewisserte mich, dass alle beschäftigt waren. Keiner dachte ernsthaft daran, dass ich
mich aus dem Staub machen würde. Ein Umstand, den ich nutzte. Ganz leise nahm
ich meinen Rucksack auf und folgte zwischen hohen Felsen einem steilen Pfad bergauf,
zwängte mich durch einen Gesteinsspalt, der gerade breit genug war, dass ein Mensch
hindurchkam - und tauchte im Zwielicht des Sternenhimmels unter, das mir gerade aus-
reichend Sicht bot.
Nach einigen Kilometern verlangsamte ich meine Schritte, blickte mich aber weiterhin
wachsam um und verwischte meine Spuren, indem ich meine Stiefel auszog, die Hosen-
beine hochkrempelte und einem kleinen Flusslauf aufwärts folgte.
Hinter einem höher gelegenen Seitencanyon, gut versteckt zwischen Büschen und Fels-
blöcken, suchte ich mir erschöpft einen Platz zum Ausruhen und fiel sofort in einen tiefen
Schlaf.
Tags darauf traf ich auf einige Kurden, die allein oder in kleinen Gruppen unterwegs waren.
Stolze Gestalten mit hohen Wangenknochen und Adlernase. Illegal, ohne sich um die Gren-
zlinien zu kümmern, wechselten sie von einem Staat in den anderen, so wie auch ich die
kaum kontrollierten Grenzen mehrmals »schwarz« passierte. Dabei stieß ich gelegentlich
auf kastenförmige Häuser, die am Hang klebten: Wohnstätten kurdischer Familien, die
dunklen Höhlen glichen, kaum erleuchtet durch Kerzen und Petroleumlampen. Kinder mit
kurzgeschorenen Köpfen und großen Rosinenaugen pressten ihre ernsten Gesichter von
innen an die Plastikfolien, die vor die lukenartigen Fenster gespannt waren. Hier backten
die Frauen den Brotteig noch an heißen Wänden großer Tonkrüge, wobei der dünne Teig
erst dann von der erhitzten Innenwand abfiel, wenn er gar war.
Diese Dörfer waren von der Außenwelt völlig abgeschnitten, die Familien isoliert. Keine
Straße führte hierher, nur winzige Pfade, auf denen allenfalls ein Maultier vorankam. Kein
Wunder, dass die Zahl der Kranken in den kurdischen Dörfern enorm hoch war. Es fehlte
an Ärzten und Medikamenten. Von 500 Neugeborenen starben 80 im ersten Lebensjahr. So
wurde ich oft nach Tabletten und Salben gefragt. Doch meine Notapotheke war nicht groß.
Nur bei Hals-, Magen- oder Darmbeschwerden konnte ich behilflich sein.
Weiter führte meine Route nach Nordosten zum iranischen Urmiasee (kurdisch: Gola
Urmiyê), dessen Oberfläche vom sanften Wind leicht gekräuselt war. Es ist der größte
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