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nicht lumpen zu lassen. Der Hummer war tot. Ich wusste, dass man sie lebendig kochen
musste, aber dieser hier saß leblos in Carlos' Eimer. Wir beschlossen, zu verhandeln.
„Er ist tot, Carlos“, sagte Melissa. „No, iss nix tot“, sagte Carlos. Ich hob ihn hoch, um ihn
zu inspizieren. Eines seiner Beine fiel herab. „Für mich sieht er durchaus tot aus“, sagte
ich. „No, ruht sich nur aus.“ „ Ruht sich nur aus? Carlos, das ist ein toter Hummer.“ „No,
no, schlafen imma am Nachmittag, wisst ihr.“ Ich dachte, Carlos spielte einfach nur Monty
Pythons Papageien-Sketch durch, aber er schwor, dass er nie von Monty Python gehört
hatte. („Monty Pyfon, wer iss Monty Pyfon??“) Wir kauften den Hummer trotzdem und
schlemmten stundenlang - d.h., wir versuchten stundenlang, ihn mit meinem Taschenmess-
er zu zerteilen, um hier und da einen Mundvoll herauszubekommen. Mit seinem tiefsin-
nigen mediterranen Aussehen und sauber gestutzten Bart hätte Carlos Ulysses selbst sein
können, versetzt in eine andere Zeit, weit weg von zu Hause, gestrandet an einem weit ent-
fernten Strand - er war so lange gereist, dass er wahrscheinlich niemals in ein „normales“
Leben zurückkehren konnte.
Er sagte, dass er die letzten fünfzehn Jahre auf Reisen gewesen wäre, einschließlich seiner
Zeit in der Fremdenlegion.
Wo auch immer wir gewesen waren - Carlos war fünfmal länger dagewesen. Er hatte fün-
fzehn Tage in dem kleinen Dorf Aguas Calientes verbracht, an den heißen Quellen mit der
schwimmenden Kacke am Fuß des Machu Picchu - einem Ort, an dem die meisten Reisen-
den nur so lange verweilen, wie es dauert, um einen Bus zu finden, der sie wieder hinaus-
bringt. Abgesehen von den fünf Jahren, in denen er für die Franzosen in längst vergessen-
en Kolonialkriegen im Tschad, in Dschibuti und in anderen finsteren Gegenden Afrikas
gekämpft hatte, hatte er sechs Jahre lang in Indien gelebt. Dort hatte er den Lebensstil eines
Sadhu angenommen, eines wandernden Hindu-Heiligen, der kein Zuhause und - außer
einem symbolischen Dreizack - keinerlei Besitz hat. Er hatte sein Haar wachsen lassen,
Hindi gelernt und seine Zeit damit verbracht, Schillums zu rauchen und Lebensmittel zu
essen, die er von Pilgern bekam.
Als sein Visum ablief, warfen sie ihn aus Indien hinaus. Aber er ging wieder zurück. Also
warfen sie ihn wieder hinaus. Und wieder kehrte er zurück. Schließlich steckten sie ihn ins
Gefängnis, wo er und 40 andere Männer in einem Raum um den Platz kämpfen mussten,
den sie brauchten, um sich nachts hinlegen zu können.
„Aber das war die Zelle für Ausländer, wisst ihr“, führte Carlos weiter aus. „die Zelle für
Inder war genauso groß, aber da waren vielleicht zweihundert Männer drin.“
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