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Die Welt der Müllsammler
„Schreib das auf“, sagt Lidia Qinteros.
„Schreib das auf, damit die Welt weiß,
wie wir hier leben.“ Das Elendsviertel
fängt bei einer kleinen Kreuzung an.
Dort wo der Bürgersteig aufhört. Das
Rinnsal am Rand der ungepflasterten
Straße stinkt übel. Die Häuschen rü-
cken enger zusammen. Aus den Fens-
tern dröhnt Cumbia, die Musik der Ar-
men. Ein Hahn kräht. Die Kinder lau-
fen barfuß den schmaler werdenden
Weg entlang, der in ein unüberschau-
bares Dickicht aus windschiefen Häu-
sern mit Wellblechdächern führt. Vor
den Türöffnungen hängen zerschlisse-
ne Wolldecken. Die Villa Cárcova ist
eines von zahllosen Elendsvierteln in
Buenos Aires.
Liborio Bisgara hat für sich und sei-
ne fünf Kinder am Ende der Villa eine
Hütte gezimmert. Er konnte die Mie-
te seiner Wohnung in der Stadt nicht
mehr bezahlen, als er während der
Wirtschaftskrise seinen Job als Maler
verlor. Nun zieht er mit einer manns-
hohen Karre los, um aus dem Abfall
der Stadt Papier und Kartons zu klau-
ben, die er für ein paar Pesos an die
Altpapierhändler weiterverkauft.
Die Villa Cárcova liegt im Stadtteil
San Martín, im Gran Buenos Aires,
außerhalb der „Capital Federal“. 6000
Familien sollen in diesem Elendsvier-
tel wohnen. Es ist nur eine Villa von
schätzungsweise 20 weiteren allein in
San Martín. Das Leben hier folgt sei-
nen eigenen Gesetzen. Und die sind
nicht viel anders als in der bürger-
lichen Welt draußen: Es gibt ärme-
re Bewohner und reichere Bewohner,
schlaue Händler und betrogene Käu-
fer, Drogen, Bestechung, Prostitution,
Machtmissbrauch, aber auch Solidari-
tät. Die Polizei mischt sich nicht ein.
Die Villa hat ihre eigenen Wächter.
Eine Institution der Villa Cárcova
ist Lidia Quinteros. Nach dem Zu-
sammenbruch der Wirtschaft im Jahr
2001, als so viele Menschen der unte-
ren Mittelschicht in die Armut abstürz-
ten und Nacht für Nacht allein nach
offiziellen Zahlen 25.000 cartoneros
die Abfälle der Hauptstadt durchwühl-
ten, wurde Lidia zu ihrer Sprecherin
in Cárcova. Die damals 46-Jährige
klärte Probleme und hielt Kontakt zu
den Asambleas, aktiven Bürgerverei-
nigungen, die die Armen unterstütz-
ten. Zusammen organisierten sie Te-
tanusimpfungen für die „cartoneros“.
Dass die Mittelschicht sich mit den Ar-
men solidarisierte, gab Lidia ein neu-
es Selbstverständnis: „Das sind Leute,
die studiert haben. Und die stehen auf
unserer Seite!“
Lidia fing schon 1991 an, Zeitungen
und Kartons aus den Müllbeuteln am
Straßenrand zu picken. Bevor sie am
Spätnachmittag mit ihrem Sohn und
der Sackkarre loszieht, macht sie sich
fertig für ihre Arbeit in der Stadt: Sie
duscht, zieht eine frische Jeans an und
lackiert ihre Fingernägel leuchtend
rosa. Es ist schon dunkel, als die ersten
Müllsäcke an den Straßenrand gestellt
werden. Blitzschnell sprintet Lidia
hin, ein anderer Müllsammler zieht
enttäuscht weiter. „Heute musst du
schnell sein, wenn du auf die Straße
gehst“, sagt Lidia, „Du musst laufen,
wenn du etwas abbekommen willst.“
Jetzt, wo es Nacht wird, tauchen
an jeder Straßenecke dunkle Gestal-
ten auf. Sie hocken schweigend über
den Müllsäcken, reißen sie auf, fül-
len Taschen und Sackkarren mit dem
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