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„Sanary-sur-Mer,
Hauptstadt der deutschen Literatur“
Dieser Titel, für einen kleinen südfranzösi-
schen Badeort gewiss merkwürdig klin-
gend, geht auf den Philosophen Ludwig
Marcuse zurück und ist oft zitiert worden.
Wahrscheinlich ebenso oft musste er erläu-
tert werden, denn es versteht sich nicht von
selbst, warum augerechnet dem beschauli-
chen Sanary in den 1930er Jahren solch ei-
ne „Hauptstadtfunktion“ zugefallen ist.
Literaturhauptstadt zu werden, war we-
der von Seiten Sanarys geplant, noch ka-
men die Schriftsteller, die es dazu machten,
völlig freiwillig hierher. Die meisten waren
Flüchtlinge aus Hitler-Deutschland, was
auch die im Grunde bittere Ironie Ludwig
Marcuses verständlich macht: „Wir waren
im Paradies - notgedrungen.“ Er gehörte
selbst zum Kreis der Exilanten und verlebte
„sechs unglücklich-glückliche Jahre“ dort.
Im Sanary-Kapitel seiner Autobiografie
beschreibt er, wie das amerikanische FBI
ihn vor seiner Einbürgerung immer wieder
fragte: „Please tell us something about the
German colony Sanary“. Woraufhin Marcu-
se klarstellte, „dass wir Deutsche selbst in
Hitlers bester Zeit Sanary nicht zu einer
‚Kolonie' des Vaterlands gemacht hatten;
dass vielmehr dies französische Fischer-
Dörfchen in den Dreißigern von einem gu-
ten Teil der besten deutschen Literatur und
außerdem von einigen Engländern (unter
ihnen Aldous Huxley) auf die friedlichste
Weise okkupiert worden war“.
In den Jahren ab 1933 kamen also in
Sanary zusammen: Thomas Mann mit Frau
und Kindern, sein Bruder Heinrich Mann,
Arnold Zweig, Lion und Marta Feucht-
wanger, Franz Werfel und Alma Mahler-
Werfel, Ernst Toller, Bert Brecht, Alfred
Kerr und René Schickele, um nur die be-
kannteren Namen zu nennen. Manche von
ihnen wohnten hier für Jahre wie Feucht-
wanger, andere - wie Thomas Mann - blie-
ben für einige Monate, die übrigen besuch-
ten Freunde und Kollegen oder machten
auf der Durchreise Halt. Marcuse schwärmt
vom Café de la Marine und der Witwe
Schwab , wo man sich öfters traf: „Sanary
war ein umfangreiches romanisches Café,
mit Marmor-Tischen und Badehosen. Na-
mentlich im Sommer wurde das Nest über-
füllt von literarischen Kaisern. Die Luft war
geschwängert mit originellen Aperçus, In-
diskretionen und Krächen.“
Diese prickelnde Atmosphäre muss da-
mals typisch für Sanary gewesen sein, denn
schon 1931 wussten Erika und Klaus Mann,
Thomas Manns Kinder, in ihrem Riviera-
Reisebuch über die einzigartige Stimmung
zu berichten, „denn seit einigen Jahren ist
es die erklärte große Sommerfrische des
Café du Dôme, der sommerliche Treff-
punkt der pariserisch-berlinisch-schwabin-
gerischen Malerwelt, der angelsächsischen
Bohème.“
Um den großen Aldous Huxley, der in
Sanary seine pessimistische Zukunftsutopie
„Brave New World“ schrieb, hatte sich eine
Künstlerclique gebildet, für die deutsche
Fraktion waren der Maler Bondy und der
Kunsthistoriker Julius Meier-Graefe vor
Ort. Als die Nationalsozialisten die Macht
ergriffen, bildete sich um diese herum
rasch eine Flüchtlingskolonie. Unter ande-
rem fand Lion Feuchtwanger mit Meier-
Graefes Hilfe ein Haus in Sanary. Hier ent-
standen seine Romane „Die Geschwister
Oppermann“ und „Exil“.
Nach dem heutigen Stand der Forschung
lebten zwischen 1933 und 1942 mehr als
500 Exilanten aus dem Deutschen Reich
im Département Var, 80 % davon in
Sanary, Bandol und Le Lavandou. Die meis-
ten von ihnen waren nicht annähernd so
betucht wie der Bestseller-Autor Feucht-
wanger, sondern litten unter ernsten Geld-
Das Haus, in dem Lion Feuchtwanger,
und der Turm, in dem Franz Werfel
einige Zeit lebte
 
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