Geoscience Reference
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rung entsprechen. Da die Abplattung aber gut zur heutigen
Winkelgeschwindigkeit passt, folgerte Kelvin hieraus, dass
die Erde sehr viel jünger als eine Milliarde Jahre sein muss.
Damit standen die Befunde und Interpretationen von
Geologen und Physikern über das Erdalter gegen Ende des
19. Jahrhunderts im starken Widerspruch zueinander. In
einer von 1862 bis 1903 dauernden akademischen Ausein-
andersetzung gelang es Kelvin schließlich, alle Geologen
des Vereinigten Königreichs für ein Erdalter von höchs-
tens 100 Millionen Jahren zu gewinnen. Aufgrund weiterer
Überlegungen reduzierte er diesen Wert schließlich auf zehn
Millionen Jahre. Der Überzeugungskraft von Kelvins phy-
sikalischer Argumentation war von Seiten der Geologen
und Biologen nicht beizukommen. Ebenso wenig wie den
Geologen behagte Charles Darwin Kelvins kurzes Erdalter
hinsichtlich der für die Evolution benötigten Zeitspanne. Er
merkte jedoch kritisch an:
„Hinsichtlich des Umstandes, dass seit der Zeit der
Consolidation unseres Planeten die Zeit für den an-
genommenen Betrag organischer Veränderung nicht
hingereicht habe, und dieser von Sir William Thomp-
son geäußerte Einwand ist wahrscheinlich einer der
schwersten der bis jetzt vorgebrachten, so kann ich nur
sagen, dass wir erstens nicht wissen wie schnell, nach
Jahren gemessen, Arten sich verändern, und zweitens,
dass viele Naturforscher bis jetzt noch nicht zugestehen
mögen, dass wir von der Constitution des Weltalls und
von dem Inneren unserer Erde bereits genug wissen, um
mit Sicherheit über die Dauer ihres früheren Bestehens
speculieren zu können“ (Darwin 2002 , S. 540).
Zu den vom gewissenhaft vorsichtigen Kelvin angespro-
chenen denkbaren „unbekannten Energiequellen im großen
Lagerhaus der Schöpfung“ gehört einerseits die 1898 ent-
deckte Radioaktivität, deren Beitrag zum Wärmehaushalt
der Erde in Abschn. 6.2.1.2 behandelt wird. Darüber hin-
aus erweist sich nach unserem heutigen Verständnis aber die
Kernfusion als noch weitaus größere Energiequelle für die
Wärmestrahlung der Sterne. Ist deren Masse größer als et-
wa eineinhalb bis zwei Sonnenmassen, bestimmt der von
Hans Albrecht Bethe (Deutschland & USA; 1906-2005) und
Carl Friedrich von Weizsäcker (Deutschland; 1912-2007)
in den Jahren 1937 und 1938 unabhängig voneinander be-
schriebene Kohlenstoff-Stickstoff-Sauerstoff- (bzw. Bethe-
Weizsäcker-) Zyklus die Energieerzeugung, in Sternen einer
Masse bis zu etwa jener der Sonne dagegen die Proton-
Proton-Reaktion zur Umwandlung von Wasserstoff in Heli-
um. Neben dem Bethe-Weizsäcker-Zyklus ist sie die zweite
Form des sogenannten Wasserstoffbrennens und gilt als die
wahrscheinlichste Art der Energieumwandlung in der Sonne.
In Sternen bis zur Masse unserer Sonne ist der Wasser-
stoff im Sternzentrum nach etwa zehn Milliarden Jahren
erschöpft, in Sternen mit zehnfacher Sonnenmasse dagegen
schon nach reichlichen zehn Millionen Jahren.
Die Temperaturgeschichte der Erde musste nach der Ent-
deckung der Möglichkeit einer Datierung von Gesteinen
mit Hilfe radioaktiver Zerfallsuhren durch den Physiker Er-
nest Rutherford, den späteren Lord Rutherford of Nelson
(Neuseeland & UK; 1871-1937), und den britischen Geo-
logen Artur Holmes (Kasten 2.1 ) völlig neu geschrieben
werden. Insbesondere konnten den biostratigrafisch defi-
nierten Abschnitten der geologischen Zeitskala (Perioden,
Epochen, Stufen etc.) mit Hilfe der radiometrischen Alters-
bestimmung absolute Alter mit entsprechenden Unsicherhei-
ten zugeordnet werden (Tab. 7.1 , Abschn. 7.1 im Anhang).
Zwar sind Kelvins Überlegungen zum Alter von Erde (sie-
he Abschn. 6.5.4 ) und Sonne durch die Erkenntnisse der
modernen Kernphysik überholt. Dennoch war sein Beitrag
wissenschaftsgeschichtlich wichtig: Die durch ihn angeregte
und nachhaltig betriebene Diskussion geowissenschaftlicher
Probleme auf der Grundlage physikalischer Erkenntnisse
und Gesetzmäßigkeiten war sowohl für die Physik als auch
die Geowissenschaften äußerst fruchtbar. Ohne Zweifel ist
es nicht zuletzt sein Verdienst, dass in angelsächsischen
Ländern über viele Jahre hinweg eine längere und tiefere
Verbindung zwischen Physik und Geowissenschaften be-
stand (und manchmal noch heute besteht) als in anderen
Ländern.
Dieses Kapitel behandelt eine Auswahl von zur Datie-
rung von Gesteinen geeigneten radiometrischen Methoden.
Die derzeit ältesten datierten Gesteine der Erde sind
4,280 ( C 0,053/ 0,081) Milliarden Jahre alt (siehe Ab-
schn. 2.2.1.1 ) . Zu dieser Zeit verfestigten sich diese Gesteine
aus ihrer Schmelze, und ihre interne radioaktive Zerfallsuhr
begann zu laufen. Seit 1999 galten bis zu dieser Datierung
4,00-4,03 Milliarden Jahre als das älteste bestimmte Ge-
steinsalter. Mit Hilfe der radiometrischen Altersbestimmung
können sowohl den biostratigrafisch definierten phanerozo-
ischen Abschnitten der geologischen Zeitskala (Perioden,
Epochen, Stufen etc.) absolute Alter mit entsprechenden
Unsicherheiten zugeordnet werden (Tab. 7.1 ) als auch den
präkambrischen (Tab. 7.2 ) .
Kasten 2.1 Arthur Holmes §
(* 14. Januar 1890 in Gateshead, England; † 20.
September 1965 in London, England) war ein engli-
scher Physiker und Geologe, der aus dem radioaktiven
Zerfall von Uran zu Blei eine Methode zur radio-
metrischen Altersbestimmung von Gesteinen entwi-
ckelte und damit die erste quantitative geologische
Zeitskala aufstellte. Gleichfalls stellte er Überlegun-
gen über eine thermisch angetriebene freie Konvektion
des Erdmantels an und benannte diese als möglichen
Antriebsmechanismus für Alfred Wegeners Kontinen-
talverschiebung.
 
 
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