Geoscience Reference
In-Depth Information
2
Radioaktiver Zerfall und das Alter von Gesteinen
Die Frage, wie alt Erde und Kosmos sind, wurde sehr lange
kontrovers diskutiert. Gegen Ende des 18. Jahrhunderts hatte
man verstanden, dass Schichten von ungestört übereinan-
der abgelagerten Sedimentgesteinen eine zeitliche Abfolge
bilden. Auch die Bedeutung von Fossilien zur Identifizie-
rung von Schichten gleichen Alters war erkannt worden.
Aber erst Darwins Evolutionstheorie von der Entwicklung
der Arten lieferte den verbindenden kausalen Zusammen-
hang zwischen der Entwicklungsabfolge der Arten einerseits
und der chronostratigrafischen Abfolge von Sedimentge-
steinen andererseits. Aber die darwinsche Evolutionstheorie
vermittelte nur eine sehr vage Vorstellung über die dazu er-
forderlichen Zeitspannen.
Entsprechend ungenau und divergierend - von einigen
zehntausend bis etwa hundert Millionen Jahren - schätz-
ten die jeweiligen Naturforscher das Alter der Erde. Anfang
des 18. Jahrhunderts spitzte sich die Debatte auf die Fra-
ge zu, welcher Art der zeitliche Verlauf der Erdentwicklung
wohl gewesen sei: Die „Uniformitarier“ bzw. „Aktualisten“
glaubten an eine gleichförmige („uniforme“) Entwicklung,
gekennzeichnet durch einen steten Wechsel zwischen Abtra-
gung und Anhäufung, die „Katastrophisten“ dagegen an eine
Entwicklung, in der sich lange, stationäre Phasen mit kur-
zen, katastrophalen Ereignissen abwechseln. Mitte des 19.
Jahrhunderts schaltete sich der britische Physiker William
Thomson, der spätere Lord Kelvin of Largs, in diese zuvor
ausschließlich unter Geologen, Biologen und allgemeinen
Naturforschern geführte Debatte mit drei Detailstudien ein
(siehe Abschn. 6.5.4 ) , mit denen er das Alter von Sonne und
Erde eingrenzte (vgl. Kertz 1999 ) .
Da die Erde auch nach damaligen Vorstellungen nicht
älter als die Sonne sein sollte, schätzte Kelvin das Maximal-
alter der Erde zunächst durch die Bestimmung der Lebens-
dauer der Sonne. Nachdem er chemische Verbrennung und
Meteoriteneinschlag als Energiequellen verworfen hatte, be-
rechnete er die mit der gravitativen Verdichtung des solaren
Nebels einhergehende Energiefreisetzung. Diese dividierte
er durch die von der Sonne abgestrahlte Wärmeleistung und
erhielt hieraus einen Wert von 19,5 Millionen Jahren. Indem
er weiter eine variable Dichte im Innern der Sonne berück-
sichtigte, schätzte er schließlich die Lebensdauer der Sonne
auf 10-400 Millionen Jahre. Als umsichtiger Physiker fügte
er aber hinzu: „ . . . vorausgesetzt, dass es keine uns unbe-
kannte Energiequellen im großen Lagerhaus der Schöpfung
gibt “ (vgl. Kertz 1999 ) 8 .
Einen zweiten Schätzwert erhielt er aus der Abkühlung
der geschmolzenen Erde im Laufe ihrer Geschichte. Hier-
zu löste er die instationäre Wärmediffusionsgleichung (siehe
Anhang, Abschn. 7.11.2 ) , jedoch noch ohne den hier ent-
scheidenden Quellterm - die Radioaktivität wurde ja erst
im Jahr 1898 durch Henri Becquerel (Frankreich; 1852-
1908) entdeckt. Auch sah er keinen durch freie Konvektion
angetriebenen, advektiven Wärmetransport vor. Mit diesen
Annahmen erhielt er eine Lösung der Temperatur als Funk-
tion von Tiefe und Abkühlzeit. Unter verschiedenen mögli-
chen Wertepaaren entschied er sich für eine Abkühlzeit von
100 Millionen Jahren, weil die zugehörige Temperatur von
3860 °C in etwa 250 km Tiefe seinen Vorstellungen über die
Schmelztemperatur von Gesteinen am ehesten entsprach.
Zur dritten Schätzung nutzte Kelvin Beobachtungen und
Berechnungen zur Gezeitenreibung, welche eine Halbierung
der Winkelgeschwindigkeit der Erde in einer Milliarde Jahre
ergaben. Wenn die Erde früh erstarrt war, wie seine zweite
Schätzung nahelegte, so müsste die Abplattung des Rotati-
onsellipsoids der Winkelgeschwindigkeit zur Zeit der Erstar-
8 Ernest Rutherford, der im Jahr 1907 den Nobelpreis für Chemie für
seine Untersuchungen über den Zerfall der Elemente und die Chemie
der radioaktiven Stoffe erhielt, berichtet von seinen Vortrag über Radio-
aktivität und das Alter der Erde in der Royal Society (Eve, 1939 ) , dem
Lord Kelvin beiwohnte: I came into the room, which was half dark, and
presently spotted Lord Kelvin in the audience and realized that I was in
trouble at the last part of my speech dealing with the age of the earth,
where my views conflicted with his. To my relief, Kelvin fell fast asleep,
but as I came to the important point, I saw the old bird sit up, open an
eye, and cock a baleful glance at me! Then a sudden inspiration came,
and I said, “Lord Kelvin had limited the age of the earth, provided no
new source was discovered. That prophetic utterance refers to what we
are now considering tonight, radium!” Behold! The old boy beamed
upon me .
 
 
 
Search WWH ::




Custom Search