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ristiefeier. »Ist es Brot und Wein oder der Leib und das Blut Christi? Erläutere Deinen
Standpunkt.«
Zwinglis revolutionäre Ideen überzogen das Land wie schmelzender Käse, doch da wir
uns in der Schweiz befinden, waren einige Löcher darin. Nur zehn Jahre nach seiner ers-
ten Predigt war die Schweiz gespalten, vereinfacht gesagt, gab es eine Teilung in protes-
tantische Städte und katholisches Land. Da beide Seiten immer unversöhnlicher agierten,
dauerte es nicht lange, bis Krieg ausbrach. In der Schlacht bei Kappel (1531) unterlagen
die Zürcher den Katholiken, unter den vielen Toten war auch Zwingli - ein schlichter
Gedenkstein neben ein paar Linden markiert heute die Stelle, wo er gefallen ist. Und das
sollte auch schon sein Ende als Reformator sein. In dieser Hinsicht wurde er bei Weitem
von Calvin übertrumpft, der Genf zu einem protestantischen Bollwerk ausbaute. Doch
die Tatsache, dass Zwingli der Erste und Schweizer gewesen war (Calvin war Franzose),
macht ihn zu einer zentralen Figur in der Geschichte seines Landes. Wer weiß, was aus
der Schweiz und der dortigen Bevölkerung ohne ihn geworden wäre? Oder wenn er nicht
vorzeitig dahingeschieden wäre?
Sein Vermächtnis ist klar zu erkennen, wenn man im gedrungenen Mittelschiff des
Grossmünsters auf den harten hölzernen Kirchenbänken sitzt und die nackten Steinwän-
de und romanischen Bögen betrachtet, die statt der vergoldeten Kapellen, schwülstigen
Gemälde und Phantastereien katholischer Kathedralen das Kircheninnere bilden. Hier
kann man die schlichte Schönheit der Kirche selbst würdigen, eine Erfahrung, die Ruhe
schenkt. Ein abgedeckter Taufstein dient als Altar, und die einzigen Farbtupfer sind die
drei in lebhaften Farben gehaltenen hohen Buntglasfenster in der Apsis, eine moderne
Ergänzung von Augusto Giacometti aus dem Jahr 1932. Heutzutage scheren sich die Zür-
cher Protestanten deutlich weniger als zu Zwinglis Zeiten darum, ob sie als frivol gelten
könnten. Am gegenüberliegenden Flussufer steht die schlanke Schwesterkirche des
Grossmünsters, das Fraumünster mit sogar noch farbigeren Glasfenstern, in diesem Fall
1970 von Chagall geschaffen. Ergreifend schön, aber auch ein bisschen dekadent.
Für die Ironie, dass diese Schweizer Stadt des Überflusses zugleich die Geburtsstätte
der Reformation ist, haben die Zürcher keinen Sinn. Sie sehen sich selbst gern als gut ge-
kleidete, trendbewusste, weltgewandte Einwohner einer dynamischen hippen Stadt, die
mit New York und London auf einer Stufe steht. Ich bin nicht sicher, ob Zwingli das ge-
billigt hätte. Kein Wunder, dass der Rest des Landes sie in ihren Dolce & Gabbana-Schu-
hen für zu großspurig hält. Doch Zürich besteht nicht nur aus Chichi-Boutiquen und
Shoppingexzessen auf der Bahnhofstrasse. Das Flair von Niederdorf, der Altstadt, ist ein-
deutig mittelalterlich, es gibt dort keinen Verkehr, keine Franchisefilialen, keine Straßen-
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