Travel Reference
In-Depth Information
Willkommen bei den Müllers
Um der Schweizer Identität auf die Spur zu kommen, sollten wir uns statt historischer und
fiktionaler Gestalten vielleicht lieber die heutigen Schweizer anschauen. Immerhin ist die
Schweiz dank ihren Bewohnern das geworden, was sie ist. Und dazu sollten wir vorgehen,
wie es ein Schweizer täte, und die Statistik bemühen. Es ist also an der Zeit, die Müllers
kennenzulernen, die archetypische Schweizer Familie.
Stefan und Nicole sind Ende dreißig und haben nach acht Jahren Ehe zwei Kinder, Lau-
ra und Luca. Sie wohnen zur Miete in einer Vierzimmerwohnung und kommen gut mit ih-
ren Nachbarn aus, solange diese immer freundlich grüßen und darauf achten, Ruhe und
Frieden ihrer Umgebung nicht zu stören. Nicole arbeitet nur Teilzeit, weil ihr die Kinderer-
ziehung wichtiger ist als ihre Karriere; stattdessen verbringt sie 53 Stunden pro Woche mit
Kochen, Putzen, Waschen und Einkaufen. Also doppelt so viel wie Stefan, der in der
Dienstleistungsbranche Vollzeit arbeitet. Er fährt zur Arbeit und bringt es im Jahr auf vier-
zig Überstunden. Die Müllers sitzen 2,5 Stunden am Tag vor dem Fernseher, finden aber
immer noch genug Zeit, um die Lokalzeitung zu lesen.
Am Wochenende machen sie Radtouren oder gehen noch lieber wandern. Beides sind
Familienvergnügungen, die nichts kosten; sie sparen ihr Geld lieber für ihren jährlichen
Urlaub in Italien, Frankreich oder Spanien. Die Kinder gehen zum Fußballtraining, ins Bal-
lett oder zum Reiten und werden zu Hause wohnen, bis sie 23 sind. Von beiden werden
gute Noten in der Schule erwartet, Laura wird aber schon Sex haben, bevor sie 14 ist, Luca
mit 17. Bei ihren Eltern hat es sich inzwischen auf zweimal pro Woche eingependelt, mit
einer durchschnittlichen Dauer von 19 Minuten einschließlich Vorspiel.
Sie kaufen immer im Migros oder im Coop ein, der von ihnen meistgekaufte Artikel ist
Joghurt. Pro Person essen sie 250 Gramm Gemüse, 120 Gramm Kartoffeln und 160 Gramm
Fleisch pro Tag, dazu trinken sie täglich 390 Milliliter Milch. Auf die Familienfinanzen
wird streng geachtet, denn Stefan und Nicole sorgen sich, was passiert, falls er seine Ar-
beit verliert. Und natürlich müssen sie auch an ihr Alter denken und den Zahnarzt bezah-
len. Ebenmäßige weiße Zähne sind für die Kinder so wichtig wie gute Schulnoten.
Die drei Wörter, mit denen sich die Müllers selbst beschreiben, sind: vorsichtig, freund-
lich und pünktlich; dass sie sich als offen, spontan oder unordentlich sehen könnten, ist
höchst unwahrscheinlich. Und wenn sie auch nur eine Durchschnittsfamilie sind, verste-
Search WWH ::




Custom Search