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des Todes inmitten einer geschäftigen Stadt außerordentlich. Nichts hier ist bedrückend,
alles wirkt eher beruhigend und aufbauend. Ein guter Platz für stilles Gedenken.
Die Gräber scheinen ein nachträglicher Einfall gewesen zu sein, sie spitzen hier und da
zwischen Büschen und Blumen hervor. Die gut sichtbaren sind ungemein stilvoll und
modern und sehen aus, als würde sich um jedes einzelne jemand persönlich kümmern.
Makellos ist wohl der treffendste Ausdruck. Auf den meisten stehen nur der Name und
die Lebensdaten - keine übertriebene Sentimentalität, keine platten Euphemismen für
den Tod, nichts als die nackten Fakten; auch das typisch Schweiz. Viele sind Familiengrä-
ber, und zwar von weitverzweigten Familien über mehrere Generationen. Eines deckt 146
Jahre und sechs verschiedene Familiennamen ab, wobei jeder teilweise mit dem vorheri-
gen identisch ist wie bei dem Spiel, in dem sich von Wort zu Wort immer ein Buchstabe
ändert. Diese Familie hat es in sechs Schritten von Gloor-Pfenninger zu Oppiker-Schweit-
zer gebracht, was gewissermaßen auch das Jeder-kennt-jeden-über-sechs-Ecken-Phäno-
men veranschaulicht, vor allem wenn man bedenkt, dass letztlich alle in einem Grab zu-
sammenliegen.
Verglichen mit solchen Familienzusammenführungen wirkt das Spyri-Grab recht ver-
einsamt. Vor der hinteren, über und über mit Efeu bewachsenen Friedhofsmauer steht ein
schlichter weißer Stein mit einem großen herausgemeißelten Kreuz, dem Namen und den
Lebensdaten von Johanna Spyri (12. Juni 1827 bis 7. Juli 1901) und Psalm 39: »Herr, wess
soll ich mich trösten? Ich hoffe auf dich«. Ihn flankieren zwei identische weiße Kreuze,
eins für Diethelm Bernhard und eins für Johann Bernhard, die beide 1884 verstorben
sind. Ihr Sohn wurde mit 28 Jahren von der Tuberkulose dahingerafft, ihr Mann verkraf-
tete den Verlust nicht und starb kurz darauf. Zwei Kreuze für zwei schmerzliche Verluste,
die Johanna in nur einem Jahr erlitt. Ziemlich traurig das alles.
Bevor ich den Friedhof verlasse, mache ich noch einen Umweg zu dem Grab mit dem
anderen Namen, den ich auf der Liste von Madame Tropischer Sonnenuntergang erkannt
habe: Henri Dunant, Gründer des Roten Kreuzes. Sein Grab ist ein viel prachtvolleres
Monument, fast das eindrucksvollste hier. In einer steinernen quadratischen Laube zeigt
ein weißes Standbild zwei Männer, von denen der eine verwundet daliegt und der andere
seinen Oberkörper stützt, um ihn zu versorgen. Beide sind bis zur Taille nackt, was der
trostlosen Pietà eine homoerotische Note verleiht. Verblasste rote Rosen, ausgebrannte
Teelichter und Girlanden aus gefalteten Papiervögeln schmücken das Grab, ein melan-
cholischer Duft von Weihrauch hängt in der feuchten Luft. In die Rückwand ist ähnlich
einer Kameebrosche ein so realistisches Reliefporträt des bärtigen Henri Dunant gemei-
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