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Nach Interlaken und noch weiter
So ziemlich die einzigen Züge, in denen nicht Jass gespielt wird, sind die Bergbahnen.
Könnte das daran liegen, dass die Fahrgäste die Aussicht bewundern? Aber obwohl
Schweizer in der Regel unheimlich stolz auf ihre Landschaft sind, verhalten sie sich ihr ge-
genüber ziemlich blasiert; für sie ist sie nur eine Kulisse für ihr Leben. Nein, es liegt wohl
eher an den beengten Verhältnissen in den Bergbahnen, die auf Leistung und nicht auf
Komfort getrimmt wurden. Anscheinend gehören in Schweizer Bergbahnen unbequeme
Sitze mit minimaler Beinfreiheit zum obligatorischen Standard. Es ist wie in einem Billig-
flieger, nur dass man die Fenster öffnen kann. Je höher es hinaufgeht, umso unangeneh-
mer die Fahrt; und wenn man endlich in Europas höchstgelegenem Bahnhof am Jungfrau-
joch ankommt, muss man sich wirklich die Beine vertreten. Und das, nachdem man einen
horrenden Preis gelöhnt hat. 186,20 Franken, rund gerechnet 155 Euro, kostet die Hin- und
Rückfahrt. Eine Fahrtstrecke dauert 137 Minuten, man zahlt also 56 Cent pro Minute - we-
niger als bei vielen Hotlines, und der Zweck ist sehr viel vergnüglicher. Jedenfalls be-
kommt man eine Menge Berg fürs Geld - die Reise endet 3454 Meter über dem Meeress-
piegel. Natürlich zahlen nur die Superdoofen und/oder die Superreichen den vollen Preis,
aber selbst dann ist es die Sache wert. Diese Traumfahrt durchläuft drei verschiedene Sta-
dien, um den Gipfel zu erklimmen, und sie beginnt in Interlaken, dem größten Ferienort
der Schweiz.
Wenn man sich die 4550 Betten und all die Restaurants, Lokale und Souvenirläden weg-
denken würde, bliebe von Interlaken nicht viel übrig. Seine Existenz hängt völlig von der
Tourismusbranche ab und das schon seit den 1860er-Jahren, als die ersten Reisegruppen
eintrafen. Seither sind sie dem Ort treu geblieben: Wer im August die Hauptstraße hinun-
tergeht, fühlt sich wie in Little Britain, nur ohne Vicky Pollard. Interlaken ist ein Lieb-
lingsziel der britischen Touristen, nicht nur weil es so bezaubernd ist, sondern wegen sei-
ner idealen Lage mitten im Berner Oberland. Von Interlaken aus kann man mit dem
Schaufelraddampfer die beiden Seen befahren, die das Dorf in die Zange nehmen (daher
der Name) oder den Zug hinauf ins alpine Wunderland besteigen. Bei einem solchen An-
gebot vor der Haustür mag man den Planern nachsehen, dass sie Bausünden wie das Hotel
Metropole mitten im Zentrum zugelassen haben. Wenn es einen Preis für den schlimmsten
Schandfleck der Schweiz gäbe, würde dieser 18-stöckige Betonklotz meine Stimme bekom-
men. Zwar ist das Ungetüm nicht schlimmer als manche Bauten in den Vororten von Zü-
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