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Die Rekrutenschule
Die Zugfahrt von Genf nach Bern unterscheidet sich stark von anderen Strecken des Lan-
des. Auf der Karte ähnelt der Genfer See einem Croissant (mit nach unten weisenden En-
den), wobei Genf unten links sitzt. Sobald der Zug Lausanne, ganz oben an der Rundung,
passiert, kann man auf beide Halbbögen des Sees hinuntergucken. Azurblaues Wasser mit
goldenen Sonnensprengseln, so weit das Auge reicht, während am gegenüberliegenden
(französischen) Ufer Felsgipfel in die Höhe ragen und sich zu beiden Seiten der Gleise
Dörfer an steile Hänge klammern. Na schön, wenn es regnet und Sie auf der falschen Seite
des Zuges sitzen, sehen Sie nur nasse graue Felsen. Auf der richtigen Seite aber hat man
fast das Gefühl, als führe man an der Meeresküste entlang, und die Schweiz ist nicht mehr
völlig Binnenland. So bezaubernd Seen sind, mit dem Meer können sie es nicht aufneh-
men, aber an diesem See hat man ein Gefühl von Offenheit und Weite, das sich in der
Schweiz sonst selten einstellt. Lässt man die Berge und die ziemlich französische Architek-
tur mit den steilen Schrägdächern und den schmiedeeisernen Balkonen außer Acht, fühlt
man sich fast wie am Ärmelkanal.
Und wenn man den Blick von der effekthascherischen Pracht abwendet und aufs Detail
lenkt, glaubt man kaum, dass man sich noch in der Schweiz befindet. Überall Wein: drei-
reihig neben den Gleisen, Spaliere, die fast bis in die Häuser der Menschen hineinreichen,
Weinstöcke, die im Gänsemarsch zum Ufer hinuntermarschieren. Jedes Fleckchen Erde
trägt einen Rebstock, sodass die auf allen Seiten von kaskadenartigen Terrassen gesäumten
Dörfer wie nachträglich hingestellt wirken. Diese 30 Kilometer langen Südhänge, das La-
vaux, sind seit dem 11. Jahrhundert ein einziger gigantischer Weinberg. Die Schweiz mag
für ihren Wein nicht so berühmt sein wie ihre Nachbarn (und ich schließe Österreich da
nicht aus), aber die Eidgenossen trinken ihn mindestens so gern wie den importierten. Ei-
ne Flasche einheimischer Qualitätswein ist immer ein gern gesehenes Dankeschön.
Durch die Fülle der Rebstöcke, das Fehlen von Kühen und grünen Almwiesen wirkt die-
se Landschaft nicht gerade typisch für die Schweiz. Und doch ist sie durch und durch
schweizerisch: ordentlich, sauber, straff organisiert und dennoch irgendwie wunderschön.
Es ist, als hätte sich die Landschaft in vollkommener Harmonie entwickelt, wobei Mensch
und Natur zum Nutzen beider zusammenarbeiten.
Eines aber ist trotz Reben und Rebensaft ähnlich wie auf anderen Zugfahrten in der
Schweiz. Nicht nur, dass es mehrsprachige Ansagen gibt oder die Schaffnerin tüchtig und
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