Travel Reference
In-Depth Information
Die Fotograie war, wie der Jazz, eine schlagartig entstandene, mod-
erne Kunst, die sehr schnell ein hohes technisches Niveau erreichte.
Und nachdem sie aus den engen Grenzen des Ateliers heraustreten
konnte, breitete sie sich vor allem horizontal aus, dehnte sich nach
allen Seiten. 1851 richtete die französische Regierung die Mission hé-
liographique ein, und diese schickte fünf Fotografen aus, um Gebäude
(und Ruinen) bildlich zu erfassen, die zum nationalen Erbe gehörten.
Zwei Jahre zuvor hatte ein Franzose als Erster die Sphinx und die Pyr-
amiden fotograiert. Nadars Interesse galt weniger der Horizontalen als
der Vertikalen, der Höhe und der Tiefe. Seine Porträts sind besser als
die seiner Zeitgenossen, weil sie tiefer gehen. Er sagte, die Theorie der
Fotograie könne man in einer Stunde lernen und die Technik an einem
Tag; was man aber niemandem beibringen könne, sei ein Gefühl für das
Licht, das Erfassen der moralischen Intelligenz des Modells und »die
psychologische Seite der Fotograie - der Begrif erscheint mir nicht zu
prätentiös«. Er plauderte mit seinen Modellen, damit sie sich entspan-
nten, und inszenierte sie dabei mit Lampen, Wandschirmen, Schleiern,
Spiegeln und Relektoren. Der Dichter Théodore de Banville nannte ihn
einen »Romancier und Karikaturisten auf Beutefang«. Es war der Ro-
mancier in ihm, der die psychologischen Porträts hervorbrachte und
zu der Erkenntnis kam, die eitelsten Modelle seien Schauspieler, dicht
gefolgt von Soldaten. Dieser Romancier entdeckte auch einen wesent-
lichen Unterschied zwischen den Geschlechtern: Wenn ein Paar ge-
meinsam fotograiert worden war und dann wiederkam, um die Aufnah-
men zu begutachten, sah sich die Frau immer zuerst das Porträt ihres
Mannes an - und der Mann auch. Die Eigenliebe des Menschen, befand
Nadar, führt dazu, dass die meisten unweigerlich enttäuscht sind, wenn
sie endlich ein wahres Bild ihrer selbst sehen.
Moralische und psychologische Tiefe, dazu noch physische Tiefe. Nadar
fotograierte als Erster die Abwasserkanäle von Paris, wo er dreiun-
dzwanzig Aufnahmen machte. Er stieg auch in die Katakomben hinab,
die stollenähnlichen Beinhäuser, in denen nach der Räumung der Fried-
Search WWH ::




Custom Search