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ilie, Rache zu verüben. Zögerte ein Familienmitglied, dieses Gebot zu erfüllen,
wurde ihm der rimbecco gegeben, eine Art Schmährede, in der man ihm vorwarf,
die Beleidigung oder den Mord an einem Verwandten noch immer nicht gerächt
zu haben. Weigerte sich das Familienmitglied immer noch, die Vendeta aus-
zuführen, wurde es geächtet und von der Gesellschat ausgestoßen. Ein Typ wie
Shakespeares Hamlet, der mit sich hadert und Probleme hat, die von ihm erwar-
tete Blutat zu vollbringen, häte auf Korsika als elendes Weichei gegolten. Glück
für ihn, dass er weit weg in Dänemark geboren wurde.
Umgekehrt hate auch die Gegenseite kaum eine Chance, der Blutrache zu entge-
hen. Es soll einen Fall gegeben haben, in dem sich ein von einer Vendeta bedro-
hter Mann zehn Jahre lang zu Hause verschanzt hat. Sein Haus glich in dieser
Zeit einer Festung mit Schießscharten, die Türen waren verrammelt, die Fenster
mit Stroh und Matratzen ausgestopt, inceppar le fenestre nannte man das. Seine
Verwandten stellten bewafnete Wachen auf, wenn sie auf die Felder gingen und
der Mann selbst harrte in Todesangst im verdunkelten Zimmer aus. Als er es
nach dieser langen Zeit das erste Mal wagte hinauszugehen, soll er bei seiner
Rückkehr tot auf die Schwelle seines Hauses gestürzt sein. Die Kugel dessen, der
zehn Jahre geduldig und unversöhnlich auf der Lauer gelegen war, hate ihm das
Herz durchbohrt.
So eine Vendeta konnte von Generation zu Generation weitergegeben werden,
so lange, bis die Schuld gesühnt war. Das Problem dabei war nur, dass niemals
Gleichstand eintrat: Sobald eine Ehrverletzung durch Mord gerächt worden war,
fühlte sich die Familie des Opfers ihrerseits angegrifen und ging zur Gegenven-
deta über. Es kam nicht selten vor, dass sich auf diese Weise ganze Clans gegen-
seitig auslöschten. Zwischen 1821 und 1852, also innerhalb von 31 Jahren, sollen
4300 Vendeta-Morde auf Korsika verübt worden sein. Geht man noch weiter
zurück, indet man noch drastischere Angaben: Innerhalb von weniger als vier
Jahrhunderten (zwischen 1359 und 1729) sollen sage und schreibe 330000 Korsen
Opfer der Blutrache geworden sein. Ob diese Zahlen nun hundertprozentig exakt
sind oder ob sich da ein Geschichtsschreiber nicht doch ins Reich der Märchen
und Fabeln verirrt hat, ist nebensächlich. Tatsache ist, dass die archaische Tradi-
tion der Blutrache wohl ziemlich aus dem Ruder lief und man bald nicht mehr
nur wegen schmutziger Familiengeschichten tötete, sondern wegen politischer
Meinungsverschiedenheiten und im Wahlkampf. Nach und nach wurden die Ge-
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