Geography Reference
In-Depth Information
Vom Europa der „Räume“
zum Europa der „Ströme“ -
die Verkehrsgeographie
der Netzwerkgesellschaft
hen. Dabei verlieren sowohl das Ländliche wie das Städ-
tische ihre jeweiligen Konturen. Diese Figur betont einer-
seits die Heterogenisierung und Fragmentierung des
Ländlichen und hebt andererseits in landschaftsästheti-
scher Kritik hervor, dass das Ländliche sukzessiv zu
einem unansehnlichen, von partieller Urbanisierung
überzogenen Hybridraum transformiert wird. Das Land
bildet eine undefinierbare Zwischenkategorie, es mar-
kiert einen unklaren Raum, der letztlich durch die
baulichen Aktivitäten der Menschen verschandelt wird.
Dieses kulturkonservative Raumbild bemängelt die Dif-
ferenzlosigkeit, die das Ländliche heute aufweist. Die
Übergänge von Stadt und Land sind nicht mehr „sau-
ber“ und deutlich wahrnehmbar. Sie werden deshalb als
empfindliche Störung des ländlichen Blicks empfunden.
Thomas Sieverts (2008) hat mit dem Bild der Zwischen-
stadt versucht, die zunehmende Profillosigkeit und
Unschärfe des Städtischen wie des Ländlichen im Au-
ßenbereich großer europäischer Ballungsräume, wie
etwa London, Paris, Budapest oder dem Ruhrgebiet, ein-
zufangen - jenseits der üblichen Klagen über das Ver-
schwinden des Ländlichen.
Hans Gebhardt
Eine der wesentlichen wirtschafts- und verkehrsräum-
lichen Innovationen im Kontext der Globalisierung, so
lehren uns Castells (2001) und andere Theoretiker, sei
eine geoökonomische Weltkonstellation zunehmend
zusammenwachsender Kommunikation jenseits von
Nationalstaaten und politischen Systemen, die Entste-
hung einer „Netzwerkgesellschaft“ und damit die all-
mähliche Auflösung der alten räumlichen Struktur der
Welt. Die Zukunft der Welt gestalte sich weniger in ter-
ritorialen Einheiten ( space of places ), als vielmehr in
Netzwerken ( space of flows ), welche die neue soziale
Morphologie unserer Gesellschaften bilden und prinzi-
piell in der Lage sind, grenzenlos zu expandieren
(Castells 2001).
Das erste Jahrzehnt des 21. Jahrhunderts lehrt uns
gleichwohl, dass Prozesse der De-Territorialisierung
vielfach von Formen von Re-Territorialisierung begleitet
sind. Gerade auch in einer globalisierten Wirtschaft
kommen erneut regionale und lokale Standortvorteile
zum Tragen, global agierende transnationale Unterneh-
men sind auf standortspezifische Kompetenzen, auf
kreative regionale Milieus angewiesen (Kapitel 5). Die
Nationalstaaten haben als Akteure des wirtschaftlichen
Geschehens noch keineswegs ausgedient. Dies wird an
der aktuellen weak governance internationaler Institu-
tionen wie der Vereinten Nationen bei der Moderation
weltweiter Konflikte ebenso deutlich wie bei der Mode-
ration der Finanzkrise in der Europäischen Union.
Richtig ist allerdings, dass innovative Formen von
Kommunikation und Verkehr zunehmend in das Wirt-
schaftsgeschehen wie auch in unser aller Alltag eingrei-
fen und überkommene räumliche Muster infrage stel-
len. Telekommunikation und die räumlichen Folgen der
massenhaften Nutzung des Internet sind hier nur das
prominenteste Beispiel. Europa wächst aber auch auf-
grund des anhaltenden Schnellstraßennetzausbaus so-
wie der Entwicklung eines europäischen Hochgeschwin-
digkeitsschienenverkehrs zusammen.
Figur des uninteressanten und
zu vermeidenden Ländlichen
In dieser letzten Figur konzentrieren sich alle Beschrei-
bungen, die das Ländliche als ein unbedeutendes Nichts,
als Kluft, als ein Stück ohne jegliche Annehmlichkeit
und ohne Reiz konzipieren. Sie repräsentiert am ehesten
die Ignoranz und die Angst, die den Besonderheiten des
Ländlichen zugemessen wird. Diese Figur des Länd-
lichen verweist auf dessen Rückständigkeit, die mit der
Unerreichbarkeit für zivilisatorische Errungenschaften
verbunden wird oder auf die Entkopplung von diesen
Errungenschaften verweist. Doch nicht nur die man-
gelnde kulturelle Etikette und die fehlende ökonomische
Attraktivität tragen zur Meidung des Ländlichen bei.
Überdies beschreibt die Figur in letzter Konsequenz eine
Angst vor dem Nichtzivilisierten und Wilden, als Aus-
druck der Verwischung der Unterscheidung Mensch/
Tier, die man dort - im Ländlichen - antreffen kann.
David Bell (1997) sieht hierin ein einflussreiches ruro-
phobes Anti-Idyll, das nicht selten eine drastische litera-
rische Inszenierung erfahren hat, wie sie exemplarisch in
James Dickeys Roman „Flußfahrt“ zu finden ist und
jüngst beispielsweise bei der litauischen Autorin Renata
Šerelyt · (Sterne der Eiszeit) aufgenommen wird.
Search WWH ::




Custom Search