Geography Reference
In-Depth Information
Kapitel 7
Siedlungssystem
und Verkehr
Sebastian Lentz
Die Entwicklung der Raumstrukturen in Europa ist immer wieder als Gegensatz von
Städten und ländlichen Gebieten beschrieben worden. Dafür gibt es seit der Ausbildung
des spezifisch urbanen Lebens in den antiken Städten gute Gründe. Spätestens seit der
frühen Neuzeit gelten Städte als Orte von Mobilität, Wachstum und zukunftsgerichteter
Dynamik, während die Siedlungen im ländlichen Raum als beharrend und zurückblei-
bend charakterisiert wurden. Die aktive Rolle in der gesellschaftlichen Entwicklung kam
der städtischen Bevölkerung zu, während das Dorfleben als passiv und unbeweglich dis-
kreditiert oder allenfalls als romantischer Gegenentwurf zu Fehlentwicklungen in den
Städten gezeichnet wurde. Bereits die Entwicklung von Territorialstaaten, erst recht
aber die Ausbreitung urbaner Lebensformen im Zuge der Spätindustrialisierung und des
Massenkonsums haben die Land-Stadt-Gegensätze im Laufe des 20. Jahrhunderts in
weiten Teilen Europas verringert. Durch die wachsende Verbreitung von leistungsfähi-
gen Massen- wie Individualverkehrsmitteln und den exzessiven Ausbau von Verkehrs-
netzen werden die technischen Voraussetzungen für den Austausch von Gütern und
Informationen zwischen allen Regionen innerhalb Europas - städtisch wie ländlich ge-
prägten - ständig weitergetrieben. Dennoch scheint eine zunehmende strukturelle An-
gleichung ruraler und urbaner Gebiete nicht mehr der vorherrschende Trend zu sein; die
Differenzierungen verlaufen nunmehr quer zu solchen herkömmlichen Raumkategorien,
indem beispielsweise Wachstum und Schrumpfung in allen Raumtypen auftritt.
Aus säkulärer Perspektive kann man die Entwicklung der Stadt-Land-Beziehungen als
eine ständige Ausweitung und Integration größerer Raumbeziehungen interpretieren.
Waren Städte als spezialisierte Organisationsform der Gesellschaft zunächst in ihr
unmittelbares Umland eingebettet, das sie versorgten und von dem sie versorgt wurden,
so erweiterten sich die räumlichen Verflechtungen von Produktion, Handel, Kommuni-
kation und politischer Einflussnahme im Lauf der Geschichte ständig. Dieser Prozess
verlief nie gleichmäßig, weder zeitlich noch räumlich: Es gab schon immer Städte, die
stärker als andere und zeitlich manchmal weit vor den übrigen die Reichweite ihrer
Beziehungen ausdehnen und sich damit Entwicklungsvorteile verschaffen. In der Regel
waren und sind es politische Skalen, die die Rahmenbedingungen für die Strategie von
Städten - und zunehmend von Regionen - setzen: Als eine Folge des urbanen Wachs-
tums über die unmittelbaren administrativen Grenzen der Städte hinaus wird angesichts
der Herausforderung, sich in globalen Wirtschaftsbeziehungen zu positionieren, zuneh-
mend die funktionale Verflechtung der engeren und weiteren Regionen um die Städte
herum thematisiert. Einerseits ergänzen sie das Leistungsspektrum der Städte, ande-
rerseits macht die urbane Infrastruktur die Städte zu gateways für internationale Be-
ziehungen. Neben der regionalen, der nationalen und der globalen Ebene sind für die
Städte die Europäische Union und die von ihr ausgehenden politischen Einflüsse bedeu-
tend geworden, nicht zuletzt, weil die EU die strukturelle Entwicklung von Städten för-
dert.
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