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Migration
Anwerbestopp für „Gastarbeiter“ und der Einführung
restriktiver Zuwanderungspolitiken in den westeuropäi-
schen Industrieländern. In der Folge veränderten sich
auch die geographischen Muster der Migration. Die bis
dahin deutliche Zweiteilung innerhalb Europas zwi-
schen Einwanderungsländern im Norden und Auswan-
derungsländern im Süden löste sich auf, als ab dem Ende
der 1970er-Jahre die Zuwanderung in die traditionellen
Auswanderungsländer Südeuropas anstieg und auch
diese Länder die Transition zu Einwanderungsländern
durchliefen. Europa war bereits in den 1970er-Jahren
zum „Einwanderungskontinent“ (Bade 2000) geworden
und weist seither eine kontinuierlich wachsende positive
Migrationsbilanz auf (Bonifazi 2008; Abb. 6.14).
Seit den 1980er-Jahren pluralisiert sich das Migra-
tionsgeschehen in Europa. Eine neue Phase der europä-
ischen Migration, die häufig als new migration (Koser &
Lutz 1998) bezeichnet wird, begann. Die Entwicklungs-
tendenz hin zu einer Pluralisierung und „Globalisierung
der Migration“ (Castles & Miller 2003) gewann ab den
1990er-Jahren deutlich an Dynamik. Folgenreich waren
der Fall des „Eisernen Vorhangs“ und die damit einher-
gehenden geopolitischen und ökonomischen Transfor-
mationen. Nach der Öffnung der jahrzehntelangen
(Migrations-)Grenze zwischen „Westeuropa“ und „Ost-
europa“ kam es zu einem quantitativen Anstieg der
Wanderungsbewegungen. Neben den ehemaligen „Ost-
block“-Ländern kamen neue Herkunftsregionen hinzu
oder gewannen an Bedeutung, beispielsweise Latein-
amerika oder Ostasien. Auch die Zielrichtungen der
Wanderungsbewegungen veränderten sich: Migranten
aus mittel- und osteuropäischen Ländern wanderten seit
Mitte der 1990er-Jahre häufig in südeuropäische Länder,
während einige der ehemaligen „Ostblock“-Staaten
selbst zu Zielen internationaler Migrationen wurden.
Die traditionelle und simple Unterscheidung zwischen
Einwanderungs- und Auswanderungsländern ist auch
angesichts der neuen Wohlstandsmigrationen nordeu-
ropäischer Ruheständler an die Küsten Spaniens, Ita-
liens oder der Türkei (Exkurs 6.7) oder angesichts
gegenwärtig hoher Auswanderungsraten vormaliger Zu-
wanderungsländer (Exkurs 6.8) nicht mehr zutreffend.
Vielfältiger wurden in den letzten beiden Jahrzehnten
außerdem die Formen der Migration (z. B. mehr tempo-
räre Wanderungen und Pendelmigrationen) sowie die
sozioökonomischen Profile der Migranten (z. B. größe-
rer Anteil an höher qualifizierten internationalen Mi-
granten). Kurzum: Die vielschichtigen Veränderungen
seit den 1990er-Jahren brachten insgesamt eine qualita-
tiv „neue Karte der europäischen Migration“ (King
2002) hervor, die weit weniger klar und übersichtlich ist
als die „alte“ Geographie der Arbeitswanderungen in
den Nachkriegsjahrzehnten (Abb. 6.15).
Diese „neue Landkarte der Migration“ ist das Resul-
tat eines komplexen Zusammenspiels (geo-)politischer,
Überblick: vom Auswanderungs-
kontinent zum EU-Migrationsraum
Die Entwicklung der europäischen Gesellschaften ist
untrennbar mit dem Phänomen der Migration ver-
knüpft. Wanderungsbewegungen in, aus und nach
Europa nahmen im Verlauf der Geschichte viele Formen
an: Auf der Suche nach Arbeit und besseren Lebensbe-
dingungen wanderten Menschen von agrarischen Peri-
pherien in Städte, industrielle Zentren oder in die „Neue
Welt“ jenseits des Atlantik, die Expansion der europä-
ischen Kolonialreiche löste Überseemigrationen europä-
ischer Siedler und Handeltreibender aus, und politische
und soziale Konflikte zwangen Minderheiten, ihre ange-
stammten Regionen zu verlassen (Bade et al. 2007).
Lange Zeit war Europa, als gesamter Kontinent
betrachtet, ein Auswanderungskontinent. Von der Mitte
des 19. Jahrhunderts bis zum frühen 20. Jahrhundert
verließen über 50 Millionen Menschen Europa in Rich-
tung Übersee, davon etwa 30 Millionen in die Vereinig-
ten Staaten (Fassmann & Münz 1996). In der ersten
Hälfte des 20. Jahrhunderts, im Kontext der beiden
Weltkriege, bestimmten Flucht und Vertreibung die
Wanderungen in Europa. Neben millionenhaften Ver-
treibungen in der Zwischenkriegszeit gehen Schätzun-
gen von über 50 Millionen Menschen aus, die während
des Zweiten Weltkrieges und in der unmittelbaren
Nachkriegszeit fliehen mussten (Santel 1995). Bis zu
30 Millionen Menschen waren allein in Mittel- und Ost-
europa zwischen 1945 und 1950 von Flucht, Vertreibung
und Umsiedlungsaktionen betroffen (Fassmann &
Münz 2000).
Ab den 1950er-Jahren veränderte sich das Migra-
tionsgeschehen in Europa. Im Zuge postkolonialer
Rück- und Zuwanderungsbewegungen nach dem Ende
des europäischen Kolonialzeitalters und hauptsächlich
infolge der gezielten Anwerbung von „Gastarbeitern“
wurden die Länder im westlichen und nördlichen
Europa zu Einwanderungsländern, sie überschritten den
tipping point von einem negativen zu einem positiven
Wanderungssaldo (Fassmann 2009). Die Geographie
der europäischen Migration war zu dieser Zeit klar aus-
geprägt: Der quantitativ bedeutendste Teil der Migra-
tionsbewegungen führte aus Regionen an der (süd-)
europäischen Peripherie in die nördlich gelegenen
Industriestaaten und aus ehemaligen Überseekolonien
in die europäischen „Mutterländer“. In Ost-West- bzw.
West-Ost-Richtung verhinderte dagegen die zuneh-
mende Ost-West-Konfrontation bzw. der „Eiserne Vor-
hang“ Migrationsbewegungen weitgehend.
Diese erste Phase der europäischen Nachkriegs-
migration endete Anfang der 1970er-Jahre mit dem
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