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Exkurs 6.6
Regionale Muster des Zweiten Demographischen
Übergangs in Europa
Tim Leibert
Der Zweite Demographische Übergang (SDT für second
demographic transformation ) ist zwar ein einflussreiches
theoretisches Konzept, aber keineswegs unumstritten. Kri-
tiker wie Coleman (2004) bezweifeln insbesondere die
Anwendbarkeit der Theorie für Süd- und Osteuropa. Als Kri-
tik an der Kritik kann man jedoch einwenden, dass häufig
auf der nationalstaatlichen Ebene argumentiert wird,
obwohl die Ausbreitung demographischer Neuerungen von
der Theorie als Innovations-Diffusions-Prozess verstanden
wird, bei dem es Vorhut- und Nachzüglerregionen gibt.
Nationale Durchschnittswerte verwischen diese Entwick-
lungsunterschiede. Außerdem wird übersehen, dass der
Zweite Demographische Übergang ein vielschichtiges Phä-
nomen ist, das alle Aspekte des generativen Verhaltens
erfasst. Viele Kritiker betrachten jedoch nur einzelne Indi-
katoren, etwa den Anteil nichtehelicher Geburten, was der
Komplexität des Konzepts nicht gerecht wird.
Der SDT wird als Prozess angesehen, der durch einen
Bedeutungsverlust der Ehe und eine Pluralisierung der
Lebensformen gekennzeichnet ist. Gleichzeitig kommt es zu
einer Entkopplung von Ehe und Fortpflanzung. Da eine
Schwangerschaft kein zwingender Heiratsgrund mehr ist,
steigt die Nichtehelichenquote. Die Familiengründung wird
in ein höheres Alter aufgeschoben ( postponement ). Die
stärkere Betonung der Partnerschaftsqualität senkt die
Bereitschaft, eine als unbefriedigend wahrgenommene Ehe
fortzuführen. Die Scheidungsrate steigt, dadurch nimmt
auch die Zahl der Einelternfamilien zu. Diese Faktoren sind
als notwendige Bestandteile des Zweiten Demographischen
Übergangs mit einem logischen „und“ verbunden. Von
einem Zweiten Demographischen Übergang kann nur dann
gesprochen werden, wenn alle genannten Bedingungen
erfüllt werden.
Zur Beantwortung der Frage, ob sich in Europa Raumty-
pen des generativen Verhaltens entwickelt haben, die die-
sem „Profil“ entsprechen, bietet sich die Faktoranalyse an,
mit der „hinter“ den Variablen liegende Zusammenhänge
aufgedeckt und komplexe Konzepte - wie der Zweite Demo-
graphische Übergang - auf wesentliche Dimensionen redu-
ziert werden können. Es wurden Indikatoren ausgewählt,
die alle genannten Aspekte des Zweiten Demographischen
Übergangs abdecken. Um das Timing der Familiengrün-
dungs- und -erweiterungsprozesse berücksichtigen zu kön-
nen, wurden verschiedene Altersgruppen berücksichtigt.
Ein Schlüsselindikator ist die Verbreitung nichtehelicher
Lebensgemeinschaften, die die am stärksten individuali-
sierte Lebensform sind und für einen klaren Bruch mit der
traditionellen Kopplung von Ehe und Sexualität stehen. Für
Regionalstudien zum Zweiten Demographischen Übergang
stellt dieser Indikator das schwächste Glied in der Daten-
kette dar, da das unverheiratete Zusammenleben zumeist
nur im Rahmen von Volkszählungen statistisch erfasst wird.
Die Faktorenanalyse identifiziert zwar keinen „SDT-Fak-
tor“ (Lesthaeghe & Neidert 2006), jedoch sind die Dimen-
sionen Deinstitutionalisierung oder Säkularisierung, post-
ponement und Geburtenhäufigkeit Kerngrößen für Beginn
wie Ausbreitung des Zweiten Demgraphischen Übergangs
und damit grundlegend für die regionale Differenzierung
von Ausprägungen. Dazu bietet sich die Clusteranalyse an,
deren Ziel es ist, ähnliche Objekte zu Gruppen zusammen-
zufassen, und damit eine heterogene Menge von Objekten
in Teilmengen zu unterteilen, die in sich möglichst homogen
sind.
In den untersuchten Staaten lassen sich drei übergeord-
nete Familienbildungsmuster feststellen (Abb. 1). Die Clus-
ter 1, 4 und 6 repräsentieren einen eheorientierten Typ mit
geringer Pluralisierung der Lebensformen und niedriger Fer-
tilität und beinhalten Regionen, in denen der SDT noch nicht
begonnen hat oder sich in einer frühen Phase befindet. Die
Unterschiede zwischen den drei Untertypen liegen vor
allem im Ausmaß des postponement . Dieses Muster ist für
Südeuropa, Polen und Rumänien charakteristisch. Von Spa-
nien abgesehen handelt es sich um Staaten mit hoher indi-
vidueller Religiosität (Leibert 2008). Immun gegen den
Wandel des generativen Verhaltens sind diese Regionen
jedoch nicht. Neue Daten belegen, dass die Zahl der Kon-
sensualpaare in Italien seit einiger Zeit deutlich ansteigt
(Gabrielli & Hoem 2009). In Spanien hat die Akzeptanz nicht
traditioneller Lebens- und Familienformen inzwischen ein
hohes Niveau erreicht (Domínguez-Folgueras & Castro-Mar-
tín 2008). Domínguez et al. (2007) gehen daher davon aus,
dass in Zukunft mit einer steigenden Bedeutung des unver-
heirateten Zusammenlebens zu rechnen ist.
Das in Mittel- und Osteuropa dominierende Cluster 3 ist
wie in sozialistischer Zeit durch frühe eheliche Familien-
gründung, eine niedrige Bedeutung nichtehelicher Lebens-
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