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onen Kinder noch heute an gesundheitlichen Folgeschäden
leiden. Die Umgebung von Tschernobyl ist bis heute stark
verstrahlt und nicht mehr bewohnbar. Allerdings macht sich
in den letzten Jahren ein zunehmender „Katastrophentouri-
smus“ westlicher Touristen bemerkbar, welche den „Kitzel“
der nunmehr seit 25 Jahren vergangenen Katastrophe auf
sich wirken lassen wollen. Im Jahr 2010 waren es bereits
geschätzte 7500 bis 20 000 Menschen; die US-Zeitschrift
„Forbes“ schrieb im Oktober 2010 von einer „weltweit ein-
maligen Sehenswürdigkeit“, für die sich der Eintritt von um-
gerechnet 122 Euro pro Tag durchaus lohne.
Die Reaktorkatastrophe hatte darüber hinaus Folgen für
ganz Europa. Mit dem Wind wurden große Mengen radioak-
tiver Substanzen über weite Strecken verfrachtet. Der Fall-
out kam - bei wechselnden Windrichtungen - in den Folge-
tagen der Katastrophe zunächst nach Nordeuropa, sodann
in westliche Richtung nach Polen und Deutschland bis nach
Nordfrankreich und Großbritannien. Nach dem 1. Mai 1986
zog die atomare Wolke vor allem Richtung Süden in die Tür-
kei und nach Griechenland. Als Folge wiesen landwirt-
schaftliche Produkte noch über Jahre eine erhöhte Strah-
lenbelastung auf.
Noxious facilities in Europa
(1976), Grohnde (1977) und Kalkar (1977). In den
1980er-Jahren konzentrierte sich der Protest auf die ver-
schiedenen Komponenten eines integrierten Atomkreis-
laufes in Deutschland, neben Kalkar vor allem auf
die Wiederaufbereitungsanlage in Wackersdorf (in der
Oberpfalz) sowie den Standort für die Endlagerung ato-
marer Abfälle in Gorleben.
Viele europäische Länder hatten seit den 1960er-Jah-
ren mit dem Bau von Kernkraftwerken begonnen, um
die Abhängigkeit vom Erdöl zu reduzieren. Heute exis-
tieren fast 200 Anlagen; diese produzieren rund 30 Pro-
zent des Stroms in Europa, wobei es erhebliche nationale
Unterschiede gibt.
Spitzenreiter der europäischen Erzeuger ist Frank-
reich mit allein 59 Anlagen; 77 Prozent des französi-
schen Stroms stammt aus solchen Anlagen, teilweise
wird in Frankreich erzeugter Strom auch nach Deutsch-
land exportiert. In Deutschland liegt der Wert bei rund
30 Prozent (erzeugt in 19 Reaktoren); der 2001 beschlos-
sene Ausstieg aus der Kernenergie bis zum Jahr 2021
wurde zwischendurch revidiert, um nach der Reaktor-
katastrophe in Japan (Fukushima) 2011 einem neuen
Ausstiegszenario Platz zu machen. Mit dem gewollten
schwerpunktemäßigen Ausbau regenerativer Energien
ist Deutschland innerhalb der EU-Staaten allerdings
weitgehend allein. Es gibt allerdings auch europäische
Staaten wie Österreich, welche ganz auf die Nutzung von
Kernenergie verzichtet haben.
Mit dem erwachenden Umweltbewusstsein in den euro-
päischen Staaten seit den späten 1970er-Jahren kam es
zunehmend zu bürgerschaftlichem Protest gegen um-
weltbelastende Industrieproduktion und gefährliche oder
schädliche Infrastruktur, sogenannte noxious facilities .
Der berüchtigte Londoner Smog (aus smoke und fog )
wurde nicht mehr als unvermeidbar, die exzessive Luft-
und Bodenverschmutzung durch umweltbelastende
Schwerindustrie nicht mehr länger als tolerabel angese-
hen. Bereits in den 1960er-Jahren hatte die SPD im
Ruhrgebiet mit dem Slogan „Der Himmel über der Ruhr
muss wieder blau werden“ Wahlkampf betrieben. Jetzt
wurde sukzessive mit solchen Forderungen ernstge-
macht.
Neben der Luft-, Boden- und Gewässerverschmut-
zung durch industrielle Produktion gerieten vor allem
großflächige, potenziell die Umgebung schädigende
Infrastruktureinrichtungen wie der Ausbau von Groß-
flughäfen, die Anlage von Müllverbrennungsanlagen
oder der Ausbau von Großbetrieben der Grundstoffche-
mie in die Diskussion - „Seveso“ war „überall“. Als
noxious facilities lassen sich mit Weyl (1978) Einrichtun-
gen bezeichnen, die „ihrer Funktion, ihrer Ausdehnung
und ihrem Störpotential zufolge überdurchschnittliche
Anforderungen an den Raum stellen“ (zit. nach Steuer
1979). Sie benötigen große Flächen und belasten ihre
Umgebung durch Staub, Lärm und oder auch nicht
direkt wahrnehmbare Emissionen. Überdies geht von
ihnen ein subjektiv empfundenes Gefährdungspotenzial
aus, das durch spektakuläre Störfälle (bei Kernkraft-
werken, bei chemischen Großbetrieben) immer wieder
Nahrung erhält.
Zu einem Dauerbrenner wurde insbesondere in
Deutschland die Diskussion um die Nutzung der Kern-
kraft. Eine kritische Sicht der Kernenergienutzung ent-
wickelte sich hier Anfang der 1970er-Jahre am Beispiel
Wyhl in Baden. Die Gewaltfreiheit des Protests gegen
Wyhl blieb allerdings in der Folgezeit nicht mehr erhal-
ten. Es kam zu den gewaltsamen Protesten in Brokdorf
Das postfordistische
und postindustrielle Europa
Vom Fordismus zum Postfordismus
Michael Handke
Die Strukturen der vernetzten europäischen Wirt-
schaftsregionen und Produktionssysteme sind vielfältig
und lassen sich am besten mit dem Bild eines Mosaiks
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