Geography Reference
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Abb. 4.39 Blick über den Dnjepr bei
Kiew (Foto: Hans Gebhardt).
Schon im 19. Jahrhundert konstruierten Militärs und
Geographen ein Europa, das weite Ergänzungsräume in
Asien und Nordafrika umfasste (Schultz 2005).
Eine spezifische Rolle spielte dabei immer die geo-
graphische Verortung der Türkei. Bereits im ersten Welt-
krieg hatte Otto Maull, der Südosteuropa- und Ägäisex-
perte der deutschen Geographie, darauf spekuliert, „dass
sich die Natur der geographischen Verhältnisse Mittel-
Europas, Südost-Europas und Vorder-Asiens […] zu
einem durch mannigfache Bande verknüpften Lebens-
organismus zusammenschließen werden, dessen ein-
zelne Glieder dank ihrer verschiedenen Ausstattung
einer günstigen Ergänzung fähig sind“ (1917, zit. nach
Schultz 2005).
Heute werden neben Arbeitsmarktargumenten - die
Türkei als wichtigstes Quellgebiet für Arbeitsmigranten
in Zentraleuropa -, ähnlich wie schon bei der Aufnahme
osteuropäischen Staaten, weniger geographische als vor
allem sicherheitspolitische Diskurse ins Spiel gebracht,
wenn es um eine EU-Mitgliedschaft der Türkei geht.
Sehr deutlich drückte dies der damalige EU-Kommissar
für Erweiterung Günter Verheugen aus: „Die Frage nach
dem endgültigen Platz der Türkei in Europa ist eine
sicherheitspolitische Frage, und zwar ganz und gar. In
der Geschichte der europäischen Integration ist das
nichts Ungewöhnliches. Fragen von Frieden und Sicher-
heit standen am Anfang des gesamten Integrationspro-
jekts: Die Europäische Union von heute ist die Antwort
auf das von Kriegen erschütterte Europa von gestern.
Mindestens drei der bisherigen fünf EU-Erweiterungs-
runden sind nicht ökonomisch oder kulturell, sondern
sicherheitspolitisch und strategisch bestimmt gewesen:
die Beitritte von Griechenland, von Spanien und Portu-
gal und von acht mittel- und osteuropäischen Staaten
am 1. Mai 2004. Immer ging es um die Stabilisierung
junger Demokratien durch Integration - und bisher hat
das Rezept funktioniert und Europa nicht nur sicherer
und stabiler, sondern auch stärker gemacht“ (Verheugen
2004, zit. bei Reuber et al. 2005).
Politische, aber vor allem auch wirtschaftliche Motive
spielen gerade an den Rändern der EU für Beitrittswün-
sche eine wesentliche Rolle. Exemplarisch wird dies am
Beispiel Georgiens deutlich, das auch konventionellen
Europaabgrenzungen zufolge an dessen Grenzen liegt
(Kapitel 2). Vor allem im Kontext des Georgien-Russ-
land-Konflikts 2008 wurde die Inklusion Georgiens zu
Europa und der Wunsch seiner Regierung nach EU-Mit-
gliedschaft als Abgrenzungsdiskurs gegenüber Russland
instrumentalisiert. Damit einher ging eine Reihe von
Abkommen. Seit den 1990er-Jahren gehört Georgien
dem Europarat an und erhielt im Rahmen europäischer
Wirtschaftsförderprogramme (TACIS und ECHO) Auf-
bauhilfen von insgesamt 505 Millionen Euro (im Zeit-
raum von 1992 bis 2006; Müller & Gutbrod 2009). Diese
Programme trugen bei der Bevölkerung auch zu einem
recht positiven Image der EU bei. In einer repräsentati-
ven Befragung 2009 kamen Müller & Gutbrod (2009) zu
dem Ergebnis, dass 80 Prozent der Georgier in einem
Referendum für einen EU-Beitritt stimmen würden.
Damit liegt Georgien im Grad der Identifikation mit
Europa weit vor anderen postsowjetischen Staaten in der
europäischen Nachbarschaft wie Russland oder die
Ukraine (White et al. 2010).
„Von Paris über München in die Wüste“ betitelte die
Deutsche Welle vom 13. Juli 2009 einen Beitrag, in dem
vor allem das „neokoloniale“ Ausgreifen der Europä-
ischen Union auf die MENA-Länder ( Middle East and
North Africa ) im Kontext der Erzeugung von Solarener-
gie (Desertec-Projekt) thematisiert wird (Kapitel 8). Der
Vorwurf, ein neokoloniales Projekt zu verfolgen, wird
auch gegen die vor allem von Frankreich vorangetrie-
bene Mittelmeer-Union erhoben. Dabei handelt es sich
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