Geography Reference
In-Depth Information
Ostmitteleuropas und damit auch die Industriestädte
und Industriereviere standen zu Beginn der 1990er-
Jahre vor einer doppelten Anpassung: einerseits Redi-
mensionierung und Anpassung an neue, globale Kon-
kurrenzverhältnisse und andererseits Modernisierung
und Einführung neuer Technologien. Mit diesem
raschen Übergang von einer fordistischen zu einer post-
fordistischen Produktionsstruktur und von geschützten,
nationalen Absatzmärkten zu offenen und globalen
Märkten waren viele Industrieunternehmen heillos
überfordert. Sie wurden geschlossen und fielen als
monopolistische Arbeitgeber aus. Bis Ende der 1980er-
Jahre war beispielsweise Starachowice in Polen eine be-
deutende Industriestadt, in der die Lkw-Werke Star
beheimatet waren. Nach Schließung der Werke ist Stara-
chowice noch immer eine shrinking city , die mehr als
20 Prozent ihrer Einwohner verloren hat. Ózd, eine Stadt
mit über 44 000 Einwohnern Anfang der 1990er-Jah-
re (im ungarischen Komitat Borsod-Abaúj-Zemplén),
musste sein Stahlwerk nach Öffnen der Märkte schlie-
ßen und zählte 2001 noch 38 000 Einwohner.
Diese dritte These der regionalen Transformations-
forschung, die das allgemeine geographische Muster von
Bevorzugung und Benachteiligung skizzierte, sagte auch
voraus, dass in einem zunehmend liberalen System der
Marktsteuerung die standörtlichen Unterschiede größer
werden und sich nicht von alleine ausgleichen. Zumin-
dest eine Zeit lang setzt sich dieser Prozess der Verstär-
kung regionaler Disparitäten fort, bis an bestimmten
Standorten Sättigungen oder „Überhitzungen“ auftre-
ten. Wenn die Immobilienpreise in den Metropolen
oder den westlichen Grenzgebieten stark steigen und
vielleicht nicht mehr die Akzeptanz der Investoren fin-
den, dann kann mit einem positiven Impuls in den öst-
lichen Grenzgebieten oder in den kleineren und mittle-
ren Städten gerechnet werden. Dafür gibt es derzeit aber
keine Anzeichen.
Die regionale Transformationsforschung stand also
mit der Änderung der politischen Situation vor neuen
Herausforderungen. Die 2004 und 2007 vollzogene EU-
Erweiterung warf neue Fragen auf, die nur zum Teil das
östliche Europa, in vielen Bereichen jedoch auch West-
und Südeuropa betreffen: Wie wird sich das europäische
Landwirtschaftssystem verändern, nachdem Staaten wie
Polen, Tschechien oder besonders Ungarn EU-Mitglied-
staaten geworden sind und teilweise über günstige Vor-
aussetzungen verfügen, billige und qualitativ hoch ste-
hende agrarische Produkte zu liefern? Wie werden sich
Grenzgebiete dies- und jenseits des ehemaligen „Eiser-
nen Vorhangs“ entwickeln, wenn die Freizügigkeit des
Kapitals und der Arbeitskraft nach der Übergangsfrist
für einen weiteren regionalen Strukturwandel sorgen?
Und wie werden sich die großen Metropolen entwi-
ckeln, wenn das einströmende in- und ausländische
Kapital zu einer zunehmenden Spreizung des sozialen
Aufbaus und der sozialräumlichen Gliederung führt?
Regionale Transformationsforschung als eine beglei-
tende Prozess- und Konfliktforschung wird auch in den
kommenden Jahren wichtige Forschungsfragen vorfin-
den. Das „Ende“ der Transformation und damit der
Abschluss der Transformationsforschung bleibt eine nur
theoretisch bestimmbare Größe. Die aus den Nachbar-
disziplinen kommenden konzeptionellen Ansätze der
„Kultur der Differenz“, der path dependency oder longue
durée schieben diese Unterschiede nicht zur Seite, son-
dern stellen diese in den Mittelpunkt der Analyse.
Ostmitteleuropäische Staaten -
Die Schrittmacher des EU-Beitritts
Hans Gebhardt
Die schrittweise Osterweiterung der EU nach 1990 war
weder primär wirtschaftsgeographisch motiviert, noch
ging es darum, eine Wiederkehr faschistischer oder
militärischer Regime abzuwehren. Im Zentrum stand
hier der Sicherheitsdiskurs. Es ging darum, den sich aus
der Umklammerung der Sowjetunion befreiten ost-
und südosteuropäischen Staaten, mehr aber noch den
ehemaligen Sowjetrepubliken und nun unabhängigen
baltischen Staaten durch Assoziation oder später Mit-
gliedschaft in der EU (und der NATO) eine Sicher-
heitsgarantie für unabhängige staatliche Entwicklung
zu vermitteln. Damit verbunden waren eine gewisse
Forcierung des außenpolitischen Einflusses der Europä-
ischen Union und ihrer Rolle im globalen Machtgefü-
ge und neue Verantwortlichkeiten in den Krisen und
Kriegen nach dem Kalten Krieg, erstmals gefordert im
Kontext des Auseinanderbrechens Jugoslawiens. Zu einer
zeitweise angestrebten gemeinsamen Außen- und Si-
cherheitspolitik (GASP) bzw. einer Sicherheits- und Ver-
teidigungspolitik (GSVP) ist es allerdings bis heute
nicht gekommen.
Als Schrittmacher der EU-Integration nach 1990 er-
wiesen sich diejenigen Staaten, welche alte historische
Bindungen besaßen und auch räumlich an erfolgreiche
kapitalistische Ökonomien angrenzten, in erster Linie
Ungarn und Tschechien. Recht erfolgreich bewältigten
auch die baltischen Staaten die Wende, an vorderer Stelle
Estland. Als Musterschüler des EU-Beitritts erwies sich
das kleine Slowenien im Norden der ehemaligen Volks-
republik Jugoslawien, das dann auch als erstes der neuen
Beitrittsländer 2008 die EU-Ratspräsidentschaft inne-
hatte (Abb. 4.35). Auch Polen hat sich relativ rasch zu
einem selbstbewussten, auf nationale Autonomie be-
dachten Mitglied der Gemeinschaft entwickelt.
Search WWH ::




Custom Search