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Städte sind einem steten Wandel unterworfen. Die europäischen
Städte, von denen nicht wenige bereits im Mittelalter gegründet
wurden, haben in ihrer Geschichte mehrere Phasen des Auf
schwungs und Abschwungs erlebt. Gleichzeitig veränderte sich
das Städtesystem, das alle Beziehungen zwischen den Städten wie
materielle und immaterielle Ströme umfasst. In den USA sind die
Städte erst ab dem 18. Jahrhundert an der Ostküste und teils sehr
viel später in den restlichen Landesteilen entstanden. In vielen
Fällen wurde Mitte des 20. Jahrhunderts der Aufschwung von ei
nem abrupten Abschwung abgelöst, dessen Ende noch ungewiss
ist. Zur gleichen Zeit traten andere Städte erst in die Wachstum
sphase ein, die immer noch andauert. Prosperierenden Städten
stehen heute Städte mit einer völlig desaströsen Entwicklung
gegenüber.
Mit der Industrialisierung erlebten viele USamerikanische
Städte im 19. Jahrhundert einen enormen Bevölkerungsanstieg;
einige zählten nur wenige Jahrzehnte nach der Gründung be
reits mehr als eine Million Einwohner. Die meisten Städte, die
den Aufschwung der Textil oder Schwerindustrie zu verdanken
hatten, verzeichneten als Folge von Deindustrialisierung und
Suburbanisierung in den vergangenen Jahrzehnten einen star
ken Bevölkerungsrückgang, während andere den Strukturwan
del vergleichsweise gut vollzogen haben. Im Süden und Westen
des Landes sind viele Städte erst im Verlauf des 20. Jahrhundert
gegründet worden und ähnlich schnell gewachsen wie die Indus
triestädte im 19. Jahrhundert. Motor der Entwicklung waren jetzt
der aufstrebende Dienstleistungssektor oder die HightechIndus
trie, die eine grundlegende Veränderung des Städtesystems in
nur einem halben Jahrhundert zur Folge hatten. Da die neueren
Städte erst gegründet wurden, als der Pkw bereits zum Massen
transportmittel geworden war, unterscheiden sie sich in vielerlei
Hinsicht von den älteren Städten. Unabhängig vom Zeitpunkt
ihrer Gründung wurden aber alle Städte in den vergangenen
Jahrzehnten von Suburbanisierung, Dezentralisierung, Frag
mentierung, Globalisierung, Privatisierung, gentrication und
Verfallserscheinungen zumindest in Teilbereichen geprägt. Mit
diesen Prozessen war ein Funktionswandel verbunden.
Eine antiurbane Haltung war in den USA immer stark ver
breitet. Aber angesichts der gravierenden Probleme der Städte,
die Mitte des 20. Jahrhunderts immer oensichtlicher wurden,
und der sprungha angestiegenen Bevölkerungsverluste veröf
fentlichte der langjährige Leiter der New Yorker Stadtplanung
Robert Moses bereits 1962 einen Aufsatz mit dem Titel Are Cities
Dead?. Da Moses mehrere Jahrzehnte für die bauliche Entwick
lung New Yorks verantwortlich gewesen war, verneinte er die
Frage nach dem Ende der Stadt zwar erwartungsgemä, aber
wirklich konsensfähig war diese Meinung nicht. Eine von Präsi
dent Jimmy Carter (19771981) eingesetzte Kommission kam so
gar zu dem Ergebnis, dass der Niedergang der Städte nicht mehr
aufzuhalten sei (Lees et al. 2008, S. xvii). Entleerung und Bedeu
tungsverlust der Städte wurden sogar durch die Politik begüns
tigt. Billiges Benzin, Subventionen für den Bau und Unterhalt
von Highways, Steuererleichterungen für Hauseigentümer und
bessere Schulen förderten das Wohnen im suburbanen Raum
auf Kosten der Steuerzahler und der städtischen Mieter. Als
die Zeichen der Globalisierung immer deutlicher wurden und
sich der Wandel der Kommunikationsmöglichkeiten langsam
abzeichnete, erhielt der Gedanke an eine Auösung der Städte
neue Nahrung. Warum in einer dicht bebauten und ökologisch
stark belasteten Stadt wohnen, wenn man auch in landschalich
reizvoller Umgebung leben kann?
Heute besteht kein Zweifel daran, dass die USamerikanische
Stadt keineswegs tot ist. Selbst Städte, die noch in den 1980er
Jahren groe Verfallserscheinungen zeigten und kaum noch an
eine positive Entwicklung glauben lieen, sind kaum wiederzuer
kennen. Stadtviertel, um die man vor nicht allzu langer Zeit noch
einen groen Bogen gemacht hat, sind zu begehrten Adressen ge
worden. Hinter gepegten Vorgärten sind renovierte Fassaden zu
erkennen, in Baulücken wurden neue Wohnhäuser errichtet, und
an den Straenkreuzungen lädt ein Starbucks zum Verweilen ein.
Wo noch vor kurzem ungepegte Wohnhochhäuser standen, die
in den 1950er bis 1970erJahren im Rahmen des sozialen Woh
nungsbaus errichtet worden waren, sind Parks, Shopping Center,
vielleicht aber auch nur unansehnliche Brachächen zu nden.
In den Innenstädten anieren Touristen wie Einheimische an den
sanierten See und Flussufern, die lange durch Industrieanlagen
geprägt waren, und es werden neue Büro und Wohnhochhäu
ser, Museen, Sportstadien und Einkaufszentren errichtet. Neue
gut verdienende und konsumorientierte Urbaniten erobern die
Städte zusehends und nutzen sie anders als früher die Industrie
arbeiter. Der Abwärtstrend scheint gebrochen: Es geht wieder
aufwärts mit der USamerikanischen Stadt. Das ist allerdings nur
die halbe Wahrheit. Denn während viele Städte eine Revitalisie
rung erleben, die noch in den 1990erJahren undenkbar war, geht
es mit anderen Städten nach wie vor bergab. Die Bevölkerung ist
weiterhin rückläug, verfallene Industrieanlagen, abbruchreife
Wohnhäuser, leere Bürogebäude und ungepegte Brachächen
lassen kaum an einen baldigen Aufschwung glauben. Die weie
Mittel und Oberschicht hat diese Städte längst verlassen. Die
früheren Wohnstandorte der Arbeiter sind durch Armut und
leider auch o durch Kriminalität und Drogenhandel geprägt. Da
die Steuereinnahmen niedrig sind, ist der Handlungsspielraum
begrenzt.
Insgesamt zeichnet sich dennoch ein Paradigmenwechsel
ab, denn der Wert der Städte wird zunehmend erkannt oder zu
mindest diskutiert. Die Zeitschri Scientic American hat im
September 2011 in einem emenhe die Zukun der Stadt als
durchaus rosig dargestellt. Die Städte werden als umweltfreund
lich, innovativ und ezient dargestellt. Die Stadtbewohner gelten
als kreativer und in einem weit gröeren Ma für das wirtscha
liche Wachstum des Landes verantwortlich als die Bewohner des
suburbanen oder des ländlichen Raums. Der ökologische Fuab
druck eines Städters ist vergleichsweise klein, da er seltener mit
dem eigenen Pkw fährt und häuger zu Fu geht oder öentliche
Verkehrsmittel nutzt. Städte sind äuerst produktiv. Wenn sich
die Bevölkerung verdoppelt, nehmen die Löhne und die Zahl
der Patente pro Kopf um 15 Prozent zu. Hierbei ist es egal, ob die
Einwohnerzahl von 40.000 auf 80.000 oder von vier auf acht Mio.
ansteigt. Von Vorteil ist auch, dass bei einen Bevölkerungswachs
tum die Infrastruktur wie die Länge der Straen und Versor
gungsleitungen oder die Zahl der Tankstellen nicht im gleichen
Ma zunehmen. Je mehr Menschen in einer Stadt wohnen, desto
ezienter wird die Infrastruktur genutzt (Bettencourt und West
2011, S. 52).
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