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Civitas Virginis - die Stadt der Jungfrau
Alle bedeutenden Kunstwerke Sienas entstanden weder aus Kunstliebe noch aus Fröm-
migkeit. Sie dienten einem Zweck, und nicht selten sogar einem militärischen.
Am Vorabend der Schlacht von Montaperti (1260) schwor der sienesische Heerführer
seine Truppen auf ein Bildnis der hl. Jungfrau ein, der er die Schlüssel der Stadt übergab
und somit zur offiziellen Schutzpatronin Sienas erkor. Nach dem Sieg über die ver-
hassten Florentiner huldigte ganz Siena der Madonna mit den großen Augen als der
Königin der Stadt. Bald stellte man jedoch fest, dass mit der kleinen romanischen Ikone
am Hochaltar des Doms „kein Staat“ zu machen war. Allzu statuarisch und „unrealis-
tisch“ wirkte sie im Vergleich zu ihren neueren, „nach antikem Vorbild“ geschaffenen
byzantinischen Schwestern (s. Madonna del B ar done von Coppo di Marcovaldo). Ihre
Nachfolgerin wurde die Madonna del Voto (um 1265). Von dem ursprünglichen fünf-
teiligen Ikonenfries ist nur mehr die halbfigurige Jungfrau selbst mit dem Kind erhalten.
Von ihrer einstigen Bedeutung kündet noch die Krone anstelle des Heiligenscheins, und
bis heute kommen die Sienesen vertrauensvoll mit Bitten zu ihr . (Eine Aufsehen erre-
gende Alternative fertigte Guido da Siena, Sienas erster namentlich bekannter Maler,
1270 im Auftrag des Dominikanerordens.)
Aber auch diese Himmelskönigin kam den Sienesen schon bald zu klein, zu un-
scheinbar und vor allem: zu wenig „sienesisch“ vor. 1308 beauftragte die städtische
Dombaubehörde daher Duccio di Buoninsegna mit der Herstellung eines Altarbildes,
das alles bis dahin Gekannte in den Schatten stellen sollte - einer wahren Maestà (Ma-
jestät), die es endlich verdienen würde, Königin von Siena genannt zu werden. Duccio
arbeitete drei Jahre an der Tafel, ehe das offizielle „Staatsporträt“ der Maestà am 9. Juni
1311 im Triumphzug durch die Straßen Sienas zum Dom überführt wurde. Allein die
Ausmaße waren monumental: 5 m lang, 4,70 m breit und auftragsgemäß beidseitig be-
malt, damit es am Hochaltar von beiden Seiten betrachtet werden konnte. Duccios wag-
halsiger „Spagat“ zwischen Kirche und Kommune, Tradition und Moderne (Byzantinis-
mus und Gotik) erschien allen derart glänzend gelöst, dass man ihm sogar verzieh, im
Grunde weit über das Ziel hinausgeschossen zu sein (sodass mehr als ein Jahrhundert
verging, ehe wieder etwas annähernd Neues und Revolutionäres geschaffen werden
sollte). Das traditionelle Ikonenschema schrumpfte unter Duccios Händen zu einem de-
korativen Apostelfries zusammen, während sich auf dem eigentlichen Bild Engel, Heilige
und selbst Zeitgenossen „naturalistisch“ und in voller Größe wie ein „Hofstaat“ um eine
Madonna drängen, die kaum mehr als überirdische Gestalt, sondern wie eine tatsächli-
che Königin wirkt, die ihren Untertanen Audienz gewährt.
Der Dom als Domäne des Bischofs war das eine, das praktische Vorbild für Stadt und
Bürgerschaft das andere. Kaum prangte Duccios Maestà am Hochaltar, beauftragte der
Rat der Neun dessen Schüler Simone Martini mit einer entsprechenden Maestà für das
soeben fertig gestellte Rathaus. Martini löste seine Aufgabe nicht weniger brillant. Der
Thron seiner „Majestät“ erinnert eher an einen mobilen Feldherrnstuhl denn an die Fas-
sade des Doms wie bei Duccio, und der große Tragebaldachin kennzeichnet die anstatt
in herrschaftliches Ultramarin in schlichtes Graubraun angetane Madonna deutlich als
eine „Reisende“, die mitsamt ihrem Gefolge der auserwählten Stadt Siena einen Staats-
besuch abstattet.
 
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