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Als sie sich dem oberen Ende des langgestreckten, dreihundert Meter langen Dorfes näherten, kam der
dreiundachtzigjährige Vater des an Lymphdrüsenkrebs verstorbenen Jakob Bieringer, der Großvater von
Emma, meiner ersten Liebe, aus seinem Haus „hintaus“ am Anfang der Kellergasse und sah unten am
anderenDorfendedenVierziger-Jahre-OpelderZigeunerstehen.Sogleichschrieundpolterteerlos:„Ihr
habt ein Auto und geht betteln, schaut, dass ihr weiterkommt, sonst schlag ich eure Eltern und euch zu
Krüppeln, Verbrechergesindel!“
Seit dem frühen Tod seines Sohnes hatte er einen Teil seines Verstandes verloren und tat oftmals Uner-
wartetes.SobewarfermicheinmalgrundlosmitspitzenundeckigenSteinen,nachdemermireineStun-
dezuvornocheineHandvollgroße,wohlriechendeundwohlschmeckendeErdbeerenausseinemGarten
geschenkthatte.SeinschlurfenderGangwarseitdemTodseinesSohnesnochstockenderundbeschwer-
lichergeworden,undwennerbiszufünfmalamTagumsHausging,nahmermanchmaleinenGehstock
zu Hilfe, auf den als Griff ein Stück Hirschgeweih aufgeschraubt war.
Das „Verbrechergesindel“ hatte eine ausgefeilte Taktik. Während die Männer ihre Waren feilboten und
die Bauern und Bäuerinnen mit schönem Gerede aus dem Haus lockten, ablenkten und beschäftigten,
schlichen sich die mit bunten Kopftüchern sowie mehrmals um den dicken Unterleib geschlagenen Tü-
chern, Röcken und gardinenähnlichen Stoffen umwickelten Frauen in die Häuser hinein und versuchten
etwaszustehlen.DieMuttervomSchickler-Ferdl(dieihrenseligen,beinlosenMannbisweilenmitMist
beworfen hatte, wenn er zu laut nach ihr schrie) stach, als sie die Zigeunerinnen beim Stehlen im Haus
erwischte, mit einer Sichel, die sie gerade in der Hand hatte, um das wild wachsende Gras vorm Haus
abzumähen, auf die Frauen ein. Die alte Schickler hatte ja eigentlich immer irgendein Werkzeug als bei
BedarfschnellbereiteWaffeindenHänden.EinerZigeunerin,miteinemrunzeligen,sonnenverbrannten
Gesicht,langeBarthaare wuchsenihraufderOberlippe,bliebdieschmutzige Sichel,aufdernochGras-
halme klebten, tief im übergroßen Gesäß stecken, so dass sich um die wild schreiende Frau eine Lache
bildete und sie zu verbluten drohte.
ZufälligwarTierarztDr.MeiderimOrt,umbeimaltenGriebingermitdemvontotenFliegenschwarzen,
mit Leim beschmierten Fliegenfänger an der Decke und den vergilbten Militärfotografien an den Wän-
den ein von Koliken geplagtes Pferd mit stark aufgeblähtem Bauch zu verarzten, das vor Schmerz un-
entwegt wieherte. Um Abhilfe zu schaffen, stieß der Veterinär dem Pferd mit einer dicken hohlen Nadel
durch die Bauchdecke direkt in den Darm, damit die treibenden Gase, die die Kolik verursachten, ent-
weichen konnten, was sie mit lautem Zischen und widerlichem Gestank auch taten. Nach dem blutigen
Vorfall im Schickler-Haus zur Hilfe geholt, verließ Dr. Meider eilig den etwas verwahrlosten Hof des
nach Pfeifenrauch riechenden Griebinger, der seine Haushälterin Marie nie geheiratet hat und nun, da
der Peterka-Emil seine Wirtschaft übernommen hatte, mehr und mehr dem Siechtum verfiel, und lief
hinüberzuSchicklers,woerdiegebogeneSichelausdemGesäßderZigeunerinzog,dieWundemitJod
bepinselte und sodann mit dem gleichen Garn, mit welchem er zuvor den angestochenen Pferdebauch
zugenäht hatte, nun auch die Sichelwunde der Zigeunerin zunähte und so die Zigeunerin vorm sicheren
Tod durch Blutverlust errettete.
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