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hatte nur noch Augen für Marcel. Darüber war ich so beleidigt und gekränkt, dass ich dem Burschen,
der Emmas Verliebtheit überhaupt nicht bemerkt hatte, von nun an keine Beachtung mehr schenkte und
mich meinerseits trotzig in seine Schwester verliebte - die ihrerseits wiederum nichts von meiner Liebe
zu ihr bemerkte. Es war alles in allem eine sehr verworrene Geschichte, die nur deshalb, jedenfalls für
mich, ein einigermaßen gutes Ende fand, weil die von uns so begehrten Stadtkinder früher als geplant
abreisen mussten.
Ferdl,deretwafünfunddreißigjährige, dumpfeundleichtbeschränkte SohnvonFrauSchickler unddem
beinamputierten alten Schickler, verfolgte seine eigenen Absichten und näherte sich dem zwölfjährigen
Mädchen einige Male unsittlich, als sie ihm im Keller half, den Wein aus dem Eichenfass in Flaschen
umzufüllen. Zuletzt hatte er, als seine Frau nicht im Haus war, versucht, ihr die Hose auszuziehen und
seine Hand zwischen ihre Beine zu schieben. Das Mädchen hatte vor Angst geschrien und war zur alten
FrauSchickler gelaufen, umihralles zuerzählen. AlsderSohndannbetrunken nach Hause kam, schlug
dieMuttersolangemitderMistgabelaufdenFünfunddreißigjährigenein,dasserhalbbewusstlosinder
Scheune am Boden liegen blieb. Die Eltern holten die Kinder wieder zu sich in die Stadt.
Während ich Marcel aus Kränkung über Emmas Interesse an seiner Person möglichst keine Beachtung
schenkte, war ich indes öfters mit seinem jüngeren Bruder Claus zusammen. Mit Claus versuchte ich
auf dem Hügel hinter dem Weinkeller mit Steinen die Spatzen vom Kirschbaum zu verscheuchen, damit
sie uns nicht die guten Herzkirschen wegfraßen. An besonders heißen Tagen gingen wir in das Keller-
gewölbe hinunter, um uns abzukühlen. Claus war klein und dick und so alt wie ich - zehn Jahre. Wenn
er mit dem Zeigefinger kräftig auf seine Nasenspitze drückte, sprossen aus den Hautporen viele klei-
ne Talgwürstchen, die wie weiße Würmer aussahen. Manchmal stellten wir uns mit dem Rücken an die
Kellerwand,holtentiefLuftundhieltendenAteman.DabeidrücktedereinedemanderenmitdemArm
fest auf den Brustkorb, bis ihm schwindelig wurde und er beinahe das Bewusstsein verlor.
Claus wurde einmal wirklich ohnmächtig. Kurz schaute er mich noch aus großen Augen an, fiel dann
nach links um und blieb reglos auf dem kalten Lehmboden liegen.
Panische Angst brach über mich herein und im gleichen Moment erinnerte ich mich an einen Rettungs-
versuch, von dem uns Oberlehrer Gedesberger erzählt hatte, bevor er wieder einem von uns auf die fla-
che Handfläche schlug. Im Krieg, so berichtete er, habe er nach einem Gefecht einige Kameraden, die
Verletzungen durch Schusswunden und Granatsplitter erlitten hatten, reanimiert und aus der Bewusstlo-
sigkeitzurückgeholt,indemersieaufdenBauchlegteundihreArmekräftignachrückwärtsundwieder
zurück drückte, wodurch die Atmung wieder in Gang gekommen sei. Dasselbe tat nun auch ich mit dem
leblosen Claus, und nach einiger Zeit öffnete er wieder die Augen, schaute mich an, lächelte und fragte
mich, wo er denn sei. Dann drückte er sich mit dem Zeigefinger auf die Nasenspitze, so dass sie an der
Druckstelle ganz weiß wurde, sich rundherum ein roter Ring bildete und kleine Talgwürmer aus den Po-
ren sprossen.
Nach Abreise der Stadtkinder besann sich Emma eines Besseren und kehrte reumütig zu mir zurück.
Unsere Spiele auf dem Dachboden wurden fortgesetzt. Meine erste große Liebe.
Wir bereiteten uns auf die Geburt unseres Kindes vor.
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