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Vielleicht hätte ich auf Hermanns Rufe besser nicht hören, weiter weglaufen und nicht mehr zurück-
kommensollen.VielleichtkönnteichmitmeinenFreundenMaxoderFranzdarübersprechen.Vielleicht
hatten sie auch einmal ein ähnliches schreckliches Erlebnis gehabt. Es gab so viele „Vielleichts“ in mei-
nem Kopf, und ich wusste nicht, wie ich aus dem Geschehenen wieder herauskommen sollte, wollte es
ungeschehen machen.
Der Haflinger ging mit gleichmäßig beruhigendem Trab und sein hellbraunes samtiges Fell glänzte in
der späten Nachmittagssonne.
Vor die Marienfigur stellte ich eine abgebrannte Kellerkerze
An den Tagen, an denen ich besonders viele Drohungen von meinem Stiefvater hatte erdulden müssen
und sehr unglücklich war, baute ich mir in meinem Zimmer, dem kleinen Kabinett, einen Hausaltar,
um näher bei Gott und der Muttergottes zu sein. Als Altartisch diente mir das kleine Nachtkastel aus
den zwanziger Jahren, das meine Mutter zusammen mit anderen Schlafzimmermöbeln von ihrer Mut-
ter vermacht bekommen hatte. Braunes Nussholz mit verschiedenen Maserungen und Füllungen an den
Schranktüren.
Die maschinell hergestellte Porzellanfigur der Maria Muttergottes stammte ebenfalls von meiner Groß-
mutter mütterlicherseits, die nun, ein Stück hinter Wien, in Petronell an der Donau wohnte und manch-
malmitallerleiMitbringselnwieBrausepulvertütenoderKaugummisaufBesuchkam.Großmutterhatte
die Maria einst von einer Wallfahrt nach Maria Elend mitgebracht und nun stand sie in unserer Abstell-
kammer. Sie war schön angemalt und ich mochte ihren demütigen Blick. Die Marienfigur kam in die
Mitte, und links und rechts von ihr stellte ich je eine zur Hälfte abgebrannte Kellerkerze sowie einen
Blumenstrauß, den ich auf der Wiese neben der Schmida gepflückt hatte. Um Marienfigur, Kerzen und
Blumen flocht ich sodann eine Girlande aus Efeu und Margeriten, um so der heiligen Maria einen wür-
digen Platz zu bereiten.
So konnte ich, wann immer und wie oft ich wollte, meine eigene Maiandacht zelebrieren oder den
schmerzensreichenRosenkranzbeten,dermirüberschwereTageoftmeineeinzigeHilfewar.AnTagen,
an denen es meiner Mutter nicht gutging, kam sie zu mir, um gemeinsam mit mir an meinem Hausaltar
zu beten. Im Grunde war es ganz gegen ihre Natur, sie war nicht wirklich gottgläubig. Allein schon des-
halb nicht, weil ihr Mann, mein Stiefvater, ganz und gar dagegen war und er es ihr daher verboten hatte.
An irgendetwas aber glaubte sie schon, vielleicht an das Himmelreich.
Bei solchen gemeinsamen Andachten waren meine Mutter und ich uns sehr nahe; zu Zärtlichkeiten, wie
sonst oft bei Mutter und Kind, kam es gleichwohl nie. Wie schön fand ich sie, wenn sie an manchen
Sonntagen ihr rotes Kleid mit weit geschnittenem Rock und großen blauen und weißen Blumen darauf
anzog, die braunen, am Rist netzartig geflochtenen Schuhe mit den kleinen Absätzen trug und an ihrem
Arm eine Handtasche in gleicher Farbe hing. Die blonden langen Haare waren zurückgekämmt, zu ei-
nemZopfgeflochtenunddieserdannrundumdenKopfgewunden.Wieschönsahsieaus,wiestolzwar
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