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und ihr rot kariertes Kopftuch hatte sie trotz der Wärme im Warteraum nicht ausgezogen. Auch ich be-
hielt die gestrickte Pudelhaube und den neuen Anorak an, den ich zu Weihnachten bekommen hatte.
Endlich hörte ich das ferne Pfeifen des Zuges. Alles erhebt sich von den Bänken, sucht seine Taschen,
Koffer,Schachteln,StoffbinkelundsonstigenGepäckbündelzusammen,umzumPerronzugehen.Auch
wir schauen noch einmal auf die Bank, ob wir auch wirklich nichts vergessen haben. Langsam und
dampfend rollt die Lokomotive heran und kommt mit Pfeifen, Fauchen, Schleifen und Quietschen end-
lich zum Stillstand. Wir reihen uns ein und warten, bis wir einsteigen können. Das Coupé dritter Klas-
se ist bis auf den letzten Platz besetzt. Ich erinnere mich noch an die hellbraunen Holzbänke mit den
Rückenlehnen aus Brettern, in die von jungen Liebenden Herzen und große Buchstaben oder auch Her-
zen mit kleinen Buchstaben darin eingeschnitzt waren.
TrotzderWärmeimüberfülltenAbteilpfiffderohnehinschoneisigeWind,jeschnellerdieFahrtwurde,
nur umso schneidender durch die Ritzen, und zwischen dem geschlossenen Fenster und dem Fenster-
rahmen bildeten sich Reif und Eiskristalle. Als ich daher versuchte, den breiten Lederriemen über den
Metallknopf unter dem Abteilfenster zu ziehen, sauste das Fenster plötzlich mit großem Rums nach un-
tenundeiskalter Schneewind wirbelte durchdenWagen.MeineMutterschimpfte mitmir,entschuldigte
sichbeidenübrigenFahrgästenfürmeineUngeschicklichkeitundschämtesich.Ichschämtemichauch.
Nach etwa einer Dreiviertelstunde quietschen schrill die Räder, der Zug wird mitten auf freiem Feld
beängstigend plötzlich immer langsamer, man hört einen dumpfen Laut, polterndes Geratter, und dann
bleibenwirmiteinemheftigenRuckstehen.DieFahrgästeimCoupédritterKlassefallenvonihrerBank
auf die gegenüberliegende und schlagen ihre Köpfe gegeneinander. Was ist passiert? Alle schauen zum
Fenster hinaus. Zaghaft und mit ängstlichem Blick steigt meine Mutter mit mir aus dem Waggon, und
als wir in den Schnee neben den Geleisen treten, hält sie mich fest an der Hand, als wolle sie sagen, wir
bleiben zusammen, hab keine Angst, der Zug fährt ohne uns schon nicht weiter.
Nach wenigen Schritten sehen auch wir den zertrümmerten grünen Traktor vor der Lokomotive stehen.
Der Traktorfahrer hatte auf der schneebedeckten Straße zu stark gebremst, war auf dem vom Schnee
verdecktenGlatteiserstinsRutschen,danninsSchleuderngekommen,hattemitenormerWuchtdierot-
weiß-rote Bahnschranke durchschlagen und war mitten auf den Schienen zum Stehen gekommen. Der
herandonnerndeZughattenichtmehrhaltenkönnenunddenTraktorsamtAnhängerüberhundertMeter
hinweg vor sich her geschoben.
Der Fahrer des Traktors war gegen die Lokomotive geschleudert worden, wodurch sein Kopf zertrüm-
mert und sein Körper zerquetscht wurde. Die Frau des Fahrers, die auf dem Anhänger gesessen hatte,
flog in kurzem Bogen vom Wagen und mit dem Kopf direkt auf die danebenliegenden Eisenbahnschie-
nen. Die aufgrund der schlechten Witterungsverhältnisse sehr spät vor Ort eintreffende Rettung konnte
nur noch die zwischenzeitlich erstarrten Leichen bergen. Der einst weiße und nun rußige Schnee war
mitvielenrotenSpritzernübersät.AnderStirnseitederLokomotiveklebtenangefroreneHautfetzenund
ausgerissene Haarbüschel. Der Lokführer machte große Schneebälle und versuchte damit die angekleb-
ten Hautfetzen und Haarbüschel von der Lokomotive zu reiben.
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