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Interessen stehen immer über dem Schicksal kleiner Leute. Der arme Bau-
er, dessen Minihof von einer kleinen Steinmauer umfriedet war, fand -
oder erschuf? - daraufhin eine kleine Steinfigur, die unverkennbar dem
Profil Atatürks ähnelte. Er stellte sie in seiner Steinmauer als Stützteil auf
und holte die lokalen Politiker, die sich erstaunt den Kopf kratzten, denn -
kein Zweifel - das war eine steinerne Hommage an den Republikgründer.
Nach einigen hin- und herschwirrenden Weisungen und staatspolitischen
Interventionen erhielt der Straßenbauingenieur den Befehl, die Straße am
Gehöft vorbeizuführen; der glückliche Bauer lebt heute noch dort und
dürfte allen Grund haben, sich als Kemalisten zu bezeichnen.
Anekdoten gibt es um Atatürk wahrhaftig genug. Sie alle beziehen sich
auf die Person, weniger auf die staatstheoretischen Fähigkeiten des Man-
nes, dem die heutige Republik Türkei vielleicht ihre Identität, mindestens
aber ihre Existenz zu verdanken hat. Aber trotz dieses eher persönlichen
Charismas bemühte sich die Atatürk-Partei CHP ( Cumhuriyet Halk Partisi
- Republikanische Volkspartei) nach dem Tod ihres großen Vorsitzenden
um die theoretische Überhöhung ihres „Vaters“, der posthum zum „in die
Ewigkeit aufgenommenen Führer“ 25) - edebi ¥ef - erklärt wurde.
Atatürk selbst war eigentlich kein origineller Ideologe, vielmehr ein
s taatsmännisch begabter Mann der Praxis, sodass im Kemalismus (ke-
malizm, atatürkçülük) praktischeLösungenkonkreterStaatsproblemetheo-
retisch aufgearbeitet sind. Die CHP formulierte ihre kemalistische Ideolo-
gie als „Sechs-Pfeile-Doktrin“ (alt£ ok), und schnell wird man erkennen,
dass sich hinter den Prinzipien praktische Problemlösungen verbergen.
Die Handlungsprinzipien der kemalistischen Ideologie
Die „Sechs Pfeile“, sprich Staatsprinzipien, teilen sich in eine Handlungs-
ebene und eine rahmengebende Organisationsebene auf. Folgende drei
Pfeile werden allgemein zur Handlungsebene gezählt und entstammen
historisch der jungtürkischen Bewegung:
Der Nationalismus (milliyetçilik)
Er stellt sicherlich das für das türkische Selbstverständnis entscheidende
ideologische Instrument der jüngeren Vergangenheit dar. Aufgrund seiner
spannungsreichen Bedeutung auch für die gegenwärtige Türkei wird auf
ihn in einem separaten Kapitel eingegangen.
Der Laizismus (Lâiklik)
Diese auch als Säkularismus bezeichnete ideologische Festlegung des
türkischen Staates fordert die Trennung der religiösen von der politi-
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