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schen Ebene (im Westen wird dieses Prinzip Trennung von Staat und Kir-
che genannt).
Mit der Ausweisung des Kalifen am 3. März 1924 leitete Kemal Atatürk
sowohl konkret als auch symbolisch den politischen Abschied vom Islam
ein. Die Türkei sollte in Zukunft ein säkularer Staat sein, gelenkt durch
diesseitige, moderne Prinzipien; Religion sollte nach westlichem Vorbild
Privatsache werden.
Vor diesem Hintergrund verstand es sich von selbst, dass Atatürk dem
Staat, nicht der Religion, das Rechts- und Erziehungsmonopol zuordnete:
Die religiöse Gerichtsbarkeit der Scharia wurde abgeschafft und das
„Türkische Strafgesetz“ (ceza kanunu) auf der Grundlage des italienischen
„Codice Zanardelli“ eingeführt (seitdem mehrfach novelliert). Eine der
praktischen Folgerungen war, dass die im Islam erlaubte Polygamie (ein
Mann kann bis zu vier Frauen ehelichen) sowie damit die religiös ge-
schlossene Ehe verboten und die westliche Monogamie eingeführt wurde.
Im Bereich der Erziehung beanspruchte von nun an der Staat das Bil-
dungsmonopol, die religiösen Institutionen wurden abgeschafft.
Auch die islamischen Orden, Bruderschaften und Stiftungen waren
den Kemalisten ein Dorn im Auge; sie wurden ebenfalls kurzerhand ge-
schlossen und ihr Besitz konfisziert. Selbst der Besuch von Heiligengrä-
bern war den Laizisten suspekt, denn wie schnell konnten diese als ver-
ehrte politische Querulanten wied erauferstehen? Noch 1998 bestätigte
ein Reformgesetz, dass die (Neu)gründung eines Derwisch-Klosters eine
schwere Geld- oder Haftstrafe nach sich ziehen werde.
Während der türkische Staat jede Einmischung der Religion in gesell-
schaftlich-politische Belange zurückweist, verzichtet er umgekehrt keines-
wegs auf die Kontrolle der religiösen Aktivitäten. Sein Hauptinstrument
ist dabei das schon erwähnte „Amt für religiöse Angelegenheiten“, das
idealerweise alle religiösen Belange, vom staatlich bestallten Imam bis zur
religiösen Buchhandlung, mit den „korrekten“ religiösen Interpretationen
betreut und lenkt.
Anders als in vielen Ländern Europas ist der Laizismus in der Türkei
natürlich keine über Jahrhunderte gewachsene geistige Überzeugung. Ei-
ne antireligiöse Bewegung wie die europäische Aufklärung hat es in der
Türkei nicht gegeben. Der Kampf gegen den Einfluss der Religion ist - ty-
pisch für eine asiatisch e Kulturrevolution - von oben verordnet und be-
schlossen. Daraus erklären sich - nach den revolutionär dekretierten An-
fangserfolgen - auch die schleichenden Niederlagen des Laizismus.
Denn es ist keineswegs so, dass dieses „wichtigste Prinzip der türkischen
Verfassung“ ohne seinen strengen Hüter, soll heißen die Armee, aus-
kommt. Wie das halt so mit importierten Kulturrevolutionen ist: Es dauert
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