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Männer, oft in jenen einfachen grauen Anzügen, die gleichermaßen Form-
gefühl wie Armut verraten, befinden sich - so sie denn nicht irgendeiner
Arbeit nachgehen - in geschlossener Gesellschaft in der kleinen kahvesi
an der Ecke (Kaffeehaus, wo aber entschieden mehr Tee getrunken wird),
rauchen, reden und spielen tavla, ein gleichsam orientalisches „Backgam-
mon“, dem unter ländlichen Kaffee- bzw. Teehausbesuchern mit gerade-
zu leidenschaftlicher Passion nachgegangen wird. „Das Teehaus ist das
Wohnzimmer der Männer“: Auch hier in Istanbul gilt hier und da noch
dieser alte Satz, der fast schon nostalgisch an die gemütliche, männliche
Institution der Dorfwelt erinnert, in der Frauen und Männer sich räumlich
klar trennen. Einige drehen in ihren Fingern den tespih, jene an einen Ro-
senkranz erinnernde Gebetskette, die vor allem für religiös bewusste Män-
ner ein unverzichtbares Requisit darstellt, andere scheinen einfach in
Muße die Zeit totzuschlagen.
Dass dem Reisenden auf engstem Raum derartig konträre Bilder begeg-
nen, dass also die moderne Türkei oft nur wenige Schritte neben der tra-
ditionellen liegt, ist sicher eine der faszinierendsten wie zugleich befremd-
lichsten Erfahrungen für den Fremden (übrigens ein Kulturschock, dem
man in jedem Schwellenland ausgesetzt ist). Dieser äußerliche Kontrast ist
verbunden mit einer unterschiedlichen Verhaltens- und Denklogik. Diese
findet ihren Ausdruck nicht nur in den hier beschriebenen Kategorien Ost
vs. West und Stadt vs. Land, sondern vor allem auch in den eingangs er-
wähnten kulturellen (Asien vs. Europa) und zeitlichen (Vergangenheit
vs. Moderne) Gegensätzen der türkischen Gesellschaft. Die nächsten Ka-
pitel sind alle diesem „inneren“ Herzstück der „kulturellen Logik“ gewid-
met, nämlich dem, wodurch die Menschen geprägt sind und was ihr Ver-
halten bestimmt.
Es ist nicht übertrieben zu sagen, dass die „unsichtbaren“ Unterschiede
im Denken noch abenteuerlicher und überraschender sind als die auf der
Straße „sichtbaren“ Unterschiede, denn man nimmt sie mit nach Hause -
ob man will oder nicht. Und wer so mit „Innenblick“ eine fremde Kultur er-
fährt, wird nicht nur über die anderen, sondern auch über sich selbst -
oder das, was er bis dato dafür gehalten hat - erstaunen. Denn wie ein in-
disches Sprichwort sagt:
„Selbst Menschen mit großen Vorzügen lernen ih r eigenes Wesen erst
in der Begegnung mit anderen kennen, wie ja auch die Augen sich selbst
nur im Spiegel wahrnehmen können.“ 47)
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