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Es ist aber unrichtig zu behaupten, dass die nun einsetzende (und bis
heute andauernde) Landflucht und Verstädterung ein kulturell positives,
gleichsam gewolltes Ziel der Landbevölkerung sei. „Die Landflucht hat ih-
re Ursache in erster Linie nicht etwa in der Attraktivität der Städte, son-
dern in den erdrückenden Existenzbedingungen im ländlichen Raum.“ 35)
Denn im anatolischen Dorf (köy), womanvonaltershermehroderwe-
niger auf familiale oder sippenorientierte Abgeschlossenheit und Selbst-
versorgung orientiert war, konnten die traditionellen Großfamilien mit ih-
rer hohen Geburtenrate und folglich beständig unrentabler werdenden
Anbau-undWeideflächeihrAuskommenkaummehrbestreiten.Daindus-
trielle Arbeitsalternativen auf dem Land so gut wie gar nicht vorhanden
waren, blieb für viele Bauernsöhne und Tagelöhner die Migration in die
Städte (und später ins Ausland) die einzige Chance, Arbeit zu bekommen.
hrend die Reformen der westlich orientierten Regierungen in den
Städten die typischen Identitätselemente der modernen Urbanisation ver-
stärkte (materieller Aufstieg, steigende Flexibilität und Bildungsorientie-
rung, Individualisierung, kulturelle Öffnung zur Moderne), änderte sich in
den Dörfern und Gehöften der abgelegenen anatolischen Provinzen
zunächst nichts.
Der materielle und kulturelle Graben zwischen Stadt und Land wur-
de immer breiter und tiefer. In Ankara war man sich dieser fortschreiten-
den regionalen Polarisierung stets wohl bewusst. Als aber in den 1960er-
Jahren durch den Ausbau der Transportwege die anatolischen Regionen
zunehmend erschlossen wurden, um die Segnungen der Moderne auch
aufs Land bringen zu können, benutzten die Dorf- und Provinzbewohner
genau jene Straßen, um nun massenhaft in die Stadt zu wandern, „die ent-
wicklungspolitische Absicht verkehrte sich in ihr Gegenteil.“ 36)
Denn an dem geografischen Missverhältnis der wirtschaftlichen
Privatinvestitionen hatte sich nichts geändert: Noch in den 1980er-Jah-
ren wurden über 40% dieser vom Staat forcierten und geförderten Investi-
tionen in die Marmara-Region gesteckt, nach Ost- und Südostanatolien
flossen dagegen zusammen nur knapp 10%. 37) Schaut man sich den Anteil
dieser Regionen am Bruttoinlandsprodukt (BIP) an, ist das Gefälle noch of-
fensichtlicher: Im Marmara-Gebiet werden fast 37% des türkischen BIP er-
wirtschaftet (Istanbul allein bringt es schon auf 21,2%!), in den beiden ost-
anatolischen Provinzen sind es dagegen zusammen nur 9,3% (1995). 38)
Währenddieabsolute Bevölkerungszahl aufdemLandseit1970mitca.
23 Millionen relativ konstant blieb, hat sich diejenige der Städte auf rund
40 Millionen (1997) erhöht. Istanbul allein, wo Anfang der 1960er-Jahre
noch etwas mehr als 1 Million Einwohner lebten, ist heute ein Moloch von
rund 12Millionen Menschen (einige sprechen bereits von14Millionen,so
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