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Kontrolliertes Chaos - unterwegs auf Roms Straßen
Auf den ersten Blick herrscht im römi-
schen Straßenverkehr das reine Chaos.
Niemand hält sich an die Verkehrsregeln,
auf einer zweispurigen Straße stehen die
Autos in fünf Reihen nebeneinander und
es wird pausenlos gehupt, um, wie es der
Schriftsteller Luciano de Crescenzo aus-
drückt, „das Gefühl der Gemeinschaft zu
erleben.“
Im allabendlichen römischen Feier-
abendstau wird erbarmungslos um je-
den Millimeter Straße gekämpft. Selbst
elegante Herren im Nadelstreifenan-
zug werden plötzlich zu kleinen „Micha-
el Schuhmachers“ und versuchen, ande-
re genervte Autofahrer abzudrängen,
um sich selbst einen Weg durch die völ-
lig verstopfte Innenstadt zu bahnen. Es
ist ein strategisches Spiel: Zuerst mimt
man den Unbeteiligten, den der Stau
scheinbar überhaupt nicht interessiert.
Stück für Stück versperrt man dem Ne-
benmann den Weg, sodass er nicht mehr
weiterfahren kann und stößt dann selbst
in die entstandene Lücke vor. Die mittel-
und nordeuropäische Angewohnheit, sich
durch Blickkontakt mit dem Nebenmann
zu verständigen, ob man denn vielleicht
die Spur wechseln könne, führt in Italien
zu gar nichts.
Man fährt in dem Bewusstsein, dass es
im Grunde keine Regeln gibt und ist ge-
rade deswegen besonders aufmerksam.
Meistens funktioniert das auch und es ist
immer wieder faszinierend zu beobach-
ten, mit welcher Geschicklichkeit die Rö-
mer ihre Fahrzeuge durch das Verkehrs-
chaos bewegen.
Wie die Menschen sich im Straßenver-
kehr verhalten, ist überall auf der Welt
ein Spiegel der Gesellschaft. In Italien gilt
das Motto: Wenn sich jeder auf seinen
eigenen Vorteil konzentriert, werden
alle profitieren. Wenn ich mich jetzt vor
diesen Wagen setze, der hier neben mir
fährt, ärgert der Fahrer sich zwar, aber
der Pkw hinter mir kann dann meinen
freigewordenen Platz einnehmen. Also
habe ich doch durch meine Eigennützig-
keit auch ein gutes Werk getan. Rote Am-
peln werden gerne ignoriert: Eine Ampel
ist nur dann rot, wenn gerade ein Fuß-
gänger die Straße überqueren will oder
Gegenverkehr zu erwarten ist, dann muss
man natürlich stehen bleiben.
Die bella figura spielt auch im Straßen-
verkehr eine bedeutende Rolle. Natürlich
wird kein römischer Mann der attrakti-
ven Dame, die in eine verstopfte Haupt-
verkehrsstraße einbiegen will, die Vor-
fahrt verweigern.
Der Schriftsteller Ennio Flaiano be-
schreibt mit bissiger Ironie, was passiert,
wenn die „gute Figur“ zum reinen Selbst-
zweck wird: Ein Autofahrer winkt an ei-
ner Stelle, an der Fußgänger eigentlich
die Straße nicht überqueren dürfen, einen
Passanten großzügig hinüber. Ein paar
Hundert Meter weiter überfährt der glei-
che Mann einen Fußgänger, der gerade
über einen Zebrastreifen geht. Im ersten
Fall konnte der Autofahrer eine „bella fi-
gura“ machen, im zweiten Fall konnte er
nur eine allgemeine Regel befolgen, völlig
uninteressant für einen Italiener, der nur
an der „guten Figur“ interessiert ist.
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