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Tee in Tulpengläsern servieren. Pärhen shmusen, einige lesen Zeitung, viele sind
eingenikt. Kofer und Säke voller Proviant türmen sih im Gang, die meisten
müssen ohnehin stehen. Eine Fahrt von knapp einer Stunde nur. Das Shif wird das
Stadtgebiet von Istanbul niht verlassen, aber es ist eine Fahrt in eine andere Zeit, in
eine andere Welt.
Kınalıada, Burgazada, Heybeliada, Büyükada. Trauminseln. Albtrauminseln.
»Willkommen auf den Inseln der Kerker und der Folter«, wird uns später eine unser-
er Gastgeberinnen begrüßen. »Willkommen an einem magishen Ort, wo jeder Stein
und jedes Haus vor Geshihten platzen.« Die Prinzeninseln. Hundertsehzig Jahre.
So lange ist das noh niht, dass die Menshen freiwillig hierherkommen, dass sie ein
kleines Vermögen bezahlen, um hier ein Haus zu besitzen. Byzantinishe Prinzen,
von der eigenen Muter geblendet, wurden hierher verbannt, mahtgierige Kaiser-
innen in Klostern entsorgt, missliebige Patriarhen in Kellergewölbe gesperrt. Noh
die Jungtürken shikten nah ihrer Revolution hier die Straßenhunde Istanbuls ins
Exil, und niht lange danah fand sih hier Leo Trotzki ein und shrieb auf Büyükada,
der größten der Inseln, an seiner »Geshihte der russishen Revolution«.
Ein Ort des Exils war das also, aber vielleiht ist es zu früh, um in der Vergan-
genheitsform zu sprehen. Ein Abend in einem der Fishrestaurants nahe der An-
legestelle. Shritsteller, Jounalisten, Fernsehleute. Erzählen sih von den Zeiten nah
dem Militärputsh 1980 , als die Cafés von Istanbul von Spitzeln wimmelten und sie
sih zum konspirativen Piknik in den Wäldern der Insel trafen. Der Filmemah-
er erzählt, wie er nah Deutshland loh. Der Journalist, wie sie ihn im Gefäng-
nis misshandelten. Der Hagere, der beim »Revolutionären Weg« war, vom Hunger-
streik im Kerker: »Du bist der Dünnste«, beshlossen seine Genossen, »wenn du
stirbst, brehen wir ab.« Er laht laut. Es ist ein fröhliher Abend. Raki. Geräuh-
erte Aubergine, gefüllte Weinbläter, marinierter Oktopus. Mehr Raki. Gegrillter See-
barsh, Dorade. Und noh eine Flashe. Alle hier sind heute erfolgreihe Autoren
oder Redakteure, haben gute Jobs bei angesehenen Zeitungen und Fernsehsendern.
Am Ende des Abends die unshuldige Frage: Glaubt hier am Tish eigentlih noh
jemand an den Sozialismus? Ershrokene Pause. Dann ein kollektiver Aufshrei:
»Ih!«, »Natürlih!«, »Was denkst du denn?« Der Alte am Tishende: »Und wenn ih
zehnmal geboren werde!« Linke und Liberale auf Sommerfrishe, ein kleines Häu-
lein Unbeirrter in einem zutiefst konservativen und nationalistishen Land - und
heute Abend glüklih.
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