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Vor ihr lag der Aufstieg zur Industriemetropole. Er verdankte sich weniger dem Bier als dem
einheimischen Ingenieur Emil Ritter von Škoda, der 1869 eine zehn Jahre zuvor gegründete
Maschinenfabrik übernahm und daraus einen Weltkonzern machte. Škoda produzierte Damp-
fmaschinen, Fabrikanlagen, Eisenbahnzüge, später auch Rüstungsgüter; im Ersten Weltkrieg war
dies die größte Waffenschmiede Österreich-Ungarns. Die Autofabrik, die den Namen weitertrug,
kam erst 1925 dazu, heute operiert sie wieder getrennt unter der Regie des VW -Konzerns. Die ei-
gentlicheŠkoda-FabrikaberbelegtinPilsennochimmereinganzesStadtviertelundstelltinzwis-
chen auch Straßenbahnen und Atomkraftwerke her. Am 6. Juni 2008 wurde mit einem Stadtfest
das hundertfünfzigjährige Bestehen des Unternehmens begangen.
Pilsen war schon immer ein Ort der technischen Innovation. Hier wurde in Böhmen das erste
Buch gedruckt, hier fuhr die erste Eisenbahn, hier wird auch heute modernste Technologie er-
probt.AlsIndustriemetropoleWestböhmensentfaltetdieStadtihreAusstrahlungbisnachBayern
hinein,woRegensburgundNürnbergvonaltersherbedeutendeHandelspartnersind.Esbraucht
drum nicht zu verwundern, dass im Weichbild der Stadt der hundertzwei Meter hohe und spitze
TurmdesgotischenSt.-Bartholomäus-DomsalsLandmarkeallenfallsvoneinemIndustrieschorn-
stein angefochten wird.
Die Kirche dominiert einen der größten Marktplätze Europas, und hier sowie in den schach-
brettartig sich anschließenden Seitengassen ist die historische Seele der Stadt zu inden. Wer
tagsüber oder abends durch diese Gassen schlendert, gewinnt rasch das Gefühl, dass hier das
menschliche Maß noch gilt. Fußgänger beherrschen den Platz, nicht Autos, ein Anlug von
Beschaulichkeit ist noch da. Mit seinen rund hundertdreiundsechzigtausenddreihundert Ein-
wohnernhatPilsenoffenbarjeneglücklicheGrößeundStruktur,dieesvordemAngriffderinter-
nationalenMarkenboutiquenverschontunddemEinzelhandeljedenfallsimZentrumeinemittel-
ständischeStrukturbelässt.SonstwärenhierkaumnocheinFahrradladen,einPorzellangeschäft,
Buchhandlungen, Blumen- und Kleiderläden, ein kleines Reisebüro, ein Naturkostgeschäft und
mehrere Tabak- und Zeitschriftenhändler zu inden.
Auch mit Kneipen, Cafés, Musik-Clubs und Restaurants ist das historische Geviert im Zen-
trumbestensbestückt.AmAbendtummelnsichjungeLeuteindenStraßen,zumgutenTeilwohl
Studenten, von denen es hier um die neunzehntausend gibt. Im Schein der Tischlampe an einem
bequemen Platz ein ruhiges Mahl einzunehmen und dazu ein Pilsner zu trinken, ist freilich nicht
so einfach. Das Bier gibt es natürlich überall, aber bei einem privaten Feldversuch war vor eini-
ger Zeit kein einziges Lokal zu inden, in dem nicht eine übel dröhnende Musik uns den Däm-
merschoppen verleidet hätte. Auch in den historischen Gaststätten, der Fuhrmannskneipe »U
Salzmannu« zum Beispiel oder der ans Brauereimuseum angegliederten Schenke »Na Parkanu«,
sind heutzutage Flachbildschirme an den Wänden installiert, die das Gedöns irgendeines sport-
lichen Wettkampfs auf glatt gelackte, seelenlose Brauereimöbel werfen.
Auch in Pilsen gibt es offenbar kaum noch ein gewöhnliches, nach alter Art geführtes Lokal,
in dem man einfach nur beim Bier zusammenhockt und schwatzt, ohne irgendein Medium er-
tragen zu müssen. Dergleichen scheint heute ebenso museumsreif zu sein wie jene Kneipenszene
aus den dreißiger Jahren, die im Brauereimuseum mit Kleiderpuppen, Holzofen und Billardtisch
nachgestelltist.WarumdannnichtgleichzuMcDonald'sabschieben,wodochdieFilialeinPilsen
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