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mit Hochachtung und betrachtete das Ban-
ditentum als eine Art Berufsstand. Banditen
waren meist keine klassischen „Verbre-
cher“; gesellschaftliche Zwänge hatten zu
ihrem Verhalten geführt. Egal ob sie dem
Gesetz der Vendetta gehorchten oder
nicht - ihr Schicksal war in jedem Fall die
Flucht aus dem Dorf. Ein Mann, der seiner
Verpflichtung einen Mord zu rächen nicht
nachkam, lief Gefahr, den Respekt und den
Schutz der eigenen Familie zu verlieren.
Auch wenn Frauen bei einer Vendetta
meist nicht selbst zur Waffe griffen, so wa-
ren sie nicht unbeteiligt. Es war ihre Rolle,
nach einem Vendetta-Mord symbolisch Ra-
che zu schwören und ihre Familie zur Ra-
che zu verpflichten. Wurde ein Mann er-
mordet, legte seine Ehefrau oder Mutter
die Finger ihrer Söhne oder eines Bruders
an die Wunde oder tauchte das Hemd des
Toten in sein Blut und kündigte Rache an.
Zum Racheschwur kam es oft auch bei den
Voceri, den Toten-Klageliedern, die von
Frauen im Angesicht des Toten gesungen
wurden.
Diese Vendetta-Kreisläufe waren bis An-
fang des 20. Jahrhunderts keine gelegent-
lichen Erscheinungen in korsischen Dör-
fern, sondern die Regel! Im Süden der In-
sel gab es kaum ein Dorf, in dem nicht zu-
mindest eine blutige Familienfehde im
Gange war. Die Anlässe waren unserem
heutigen Verständnis nach häufig nichtig.
Der Diebstahl eines einzigen Hahns reichte
aus, um in Pozzo-Mezzane bei einer mehr-
jährigen Vendetta zwischen den Familien
Borghetti und Taddei 40 Menschen das Le-
ben zu kosten. Eine Vendetta war meist erst
dann beendet, wenn alle Mitglieder einer
Familie ausgerottet oder untergetaucht wa-
ren. Man schätzt, dass vom 16. bis ins
19. Jahrhundert auf Korsika mehr Men-
schen durch die Vendetta starben als durch
die zahlreichen kriegerischen Auseinander-
setzungen.
Prosper Mérimée schildert in seiner be-
rühmt gewordenen Novelle „Colomba“
die Geschichte einer Vendetta. Für dieses
Werk ist Merimée in der Literaturkritik oft
gescholten worden. Ihm wurde vorgewor-
fen, er habe die Vendetta sentimentalisiert.
Seine Geschichte nehme zwar eine authen-
tische Person zum Vorbild, stelle sie aber
nicht authentisch dar. Auch die Konstella-
tion, aus der sich die Vendetta entspinnt,
entspricht nicht der Realität. Dennoch: Me-
rimées „Colomba“ ist ein Werk, das einen
guten Einblick in den Mechanismus der
Vendetta gibt. Dass er parteiisch schreibt,
ist dafür eher von Vorteil, denn so wird der
Leser tief in die emotionale Handlung ein-
bezogen, die der Vendetta zugrunde liegt.
Sie hat nichts Objektives, ebenso wenig
wie Merimées Novelle. Das Buch ist einfach
geschrieben, so dass es jeder, der Franzö-
sisch-Grundkenntnisse hat, mit Gewinn im
Original lesen kann.
Noch heute ist in Fozzano das Haus zu
sehen, in dem die historische Colomba ge-
lebt hat. Das Ortsbild und seine Häuser, die
vielfach eher Wohntürmen gleichen, ver-
mitteln noch immer einen lebendigen Ein-
druck der Stimmung, die in diesen Siedlun-
gen zu Zeiten der Vendetta geherrscht ha-
ben muss. Die turmartigen Wohnanlagen
wurden nicht zum Schutz vor Sarazenen
befestigt, sondern zum Schutz vor verfein-
deten Clans im eigenen Dorf.
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