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Ein Konzert
in Pigna
teinische Texte und klingen bisweilen wie
gregorianischer Choral.
Während die Sänger noch mit dem Um-
ziehen und der Stimmprobe beschäftigt
sind, füllt sich der Saal des Auditoriums von
der Straßenseite her. Erst langsam gewöh-
nen sich die Augen an den kaum erleuchte-
ten Raum mit seinen dunklen, unverputz-
ten und hohen Mauern, an denen kleine
Ziernischen angebracht sind, die wie
Schießscharten aussehen. Ein runder
schwacher Lichtkreis erhellt die Mitte der
tief unten liegenden Bühne. Die etwa 100
Sitzplätze steigen steil von der Bühne zum
oben liegenden Eingang des außerge-
wöhnlichen Konzertsaals an. Die Konzert-
besucher sind vorwiegend Korsen, manche
kommen von weit her aus anderen Teilen
der Insel. Familien mit Kindern und Säuglin-
gen sind gekommen, ebenso wie alte Män-
ner und Frauen aus der Nachbarschaft. Die
Sitzplätze reichen bei weitem nicht aus,
aber Tickets werden so viele verkauft wie
Leute kommen. Die Stufen an den beiden
Außenwänden bieten weitere Sitzgelegen-
heiten, und manche Besucher bleiben auf
der Empore am Eingang stehen.
Sechs schwarz gekleidete Männer betre-
ten die Bühne, der Scheinwerferstrahl wird
stärker, taucht die Sänger in gleißendes
Licht und wirft den Rest des Raumes in un-
durchdringliche Finsternis. Die Männer bil-
den einen engen Halbkreis, ihre Oberkör-
per sind leicht nach vorne gebeugt, eine
Hand schützt ein Ohr vor der Stimme des
Nachbarn. Der Kopf der Gruppe über-
nimmt den Part des Comediante, eines
Schauspielers, der mit seiner Stimme und
teilweise heftigen Bewegungen des Ober-
körpers den Liedern textlich und durch die
Spannung in der Stimme ihre Dynamik ver-
leiht. Die anderen Sänger steuern das feste
klangliche Gerüst bei, in Tonlagen von Bass
bis Kontratenor. Manchmal geben diese
Stimmen nur einen Rhythmus oder einen
Dauerton, dann treten sie aus dem Stim-
mengewirr plötzlich hervor und überneh-
men - solo oder zusammen mit dem Co-
mediante - Melodie- und Textabschnitte.
Die Abendsonne beleuchtet das an einem
Felsvorsprung auf den Hügeln über dem
Meer gelegene Dorf Pigna in der Balagne.
Aus dem Hintereingang zur Bühne des Au-
ditoriums dringen Laute, die an den klagen-
den Ton eines Greifvogels über den Bergen
erinnern. Stimmprobe der Gruppe „A Filet-
ta“ vor ihrem Auftritt.
A Filetta (das sind Jean-Claude Acquaviva,
Jean Antonelli, Jose Filippi, Jean-Luc Geroni-
mi, Paul Giansily, Jean Sicurani, Maxime Vuil-
lamier und Valérie Salducci) wurde 1978 ge-
gründet und ist eine der wenigen korsi-
schen, polyphonen Gesangsgruppen, die
von ihrer Musik leben können. Die meisten
Gruppen proben und singen in ihrer Frei-
zeit. Es gibt über 100 polyphone Gruppen
auf Korsika, traditionell eine Männerdomä-
ne, in die aber mittlerweile auch einige
Frauengruppen einbrechen konnten. Der
polyphone Gesang ist nicht der einzige tra-
ditionelle korsische Musikstil, aber der am
weitesten verbreitete.
Polyphonie bedeutet Mehrstimmigkeit,
zu der drei bis acht Stimmen in unter-
schiedlichen Lagen beitragen. Die meisten
polyphonen Gesangsgruppen bestehen
aus fünf oder sechs Sängern und singen „a
capella“ (ohne instrumentale Begleitung).
Die Geschichte der korsischen Polyphonie
liegt völlig im Dunkeln. Gesangstechnik
und Lieder wurden innerhalb der Familie
oder Dorfgemeinschaft von Generation zu
Generation weitergegeben, ohne dass sie
je dokumentiert worden wären. Wie bei
Geschichten und Legenden, handelt es
sich um eine ausschließlich orale Tradition.
Vermutlich stellt sie eine Mischung aus mu-
sikalischen Traditionen des gesamten west-
lichen Mittelmeerraumes dar. Anklänge an
spanische und arabische Musik sind unver-
kennbar. In der Regel wird auf Korsisch ge-
sungen, manche Stücke, die auf kirchlichen
Themen oder Legenden basieren, haben la-
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