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X. NICHT NUR GIOTTO UND MICHELANGELO
Die Drohkulisse der Jüngsten Gerichte
Das erste Jüngste Gericht, das ich als Kind gesehen habe, war nicht das der Sixtina, wie es
sich für einen Römer gehört hätte, sondern das von Giotto in der Capella degli Scrovegni.
Ich war mit meinen Eltern in Padua, und natürlich beeindruckte mich der Besuch zutiefst,
denn diese Stadt ist ein Ziel, das sich eigentlich kein kultivierter Reisender entgehen
lassen kann. Genau genommen langweilten mich die Erklärungen. Die Schönheit und vor
allem das Revolutionäre dieser Schönheit, davon verstand ich zu wenig. Ich war natürlich
auch noch nicht imstande zu erkennen, welche Bedeutung die Qualität dieser Bilder in
Bezug auf die gesamte vorhergehende Malerei hatte, was für einen Bruch mit der
Zweidimensionalität der herkömmlichen Malerei sie darstellten, geschweige denn die
Aufteilung des Raums und die perspektivischen Lösungen, die der Meister für die hier
erzählten Geschichten gefunden hatte: für die Geschichte von Joachim und Anna, von
Maria, die Geschichte Christi von der Geburt bis zum Schmerzenstod am Kreuz. Hier
finden wir ein breit angelegtes, aus verschiedenen Quellen inspiriertes Programm, nicht
nur aus den vier kanonischen Evangelien, sondern auch aus Jacopo da Varagines Legenda
aurea , aus apokryphen Evangelien wie dem Proto-Evangelium des Jakobus und dem
sogenannten Pseudo-Matthäus-Evangelium.
Bei allem auch für die Augen eines Kindes offenkundigen Glanz dieses Raums
beeindruckte mich aber ein Detail ganz besonders: die beiden Engel ganz oben, zu den
beiden Seiten der Trifora, die Giotto malt, während sie sich anschicken, den Himmel
«einzurollen». Genau so: der Himmel eingerollt wie eine gemalte Bühnenkulisse, nach
einem gängigen visuellen Motiv (aber das wusste ich erst viele Jahre später), das erdacht
wurde, um das Ende der messbaren Zeit nach dem letzten göttlichen Gericht zu
symbolisieren. Die suggestive mittelalterliche Ikonografie war zutiefst von der
Apokalypse geprägt, einem der visionärsten Texte der Menschheitsgeschichte und
Archetyp jeder weiteren Flucht der Phantasie in die unerforschten Gefilde des
 
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