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Ein Jahr vor der Fußball-WM und 18 Monate vor den nächsten Präsident-
schaftswahlen stand die politische Klasse ratlos vor dem Abgrund, der sie von
den Wählern trennt. Sie ist für diese Krise selbst verantwortlich: Jahrzehnte-
lang haben Politiker aller Parteien sich ungeniert aus den öffentlichen Kassen
bedient. Mit Gesetzen und Verordnungen haben sie sich gegen Strafverfolgung
geschützt, ihre Privilegien schienen wie in Zement gegossen.
Jetzt wird ihnen die Rechnung präsentiert: Über 80 Prozent der Brasilianer
misstrauen den Volksvertretern. Sie hinterfragen die repräsentative Demokra-
tie mit ihren Parteien und Abgeordneten, weil das System keine wirksamen
Kontrollen gegen Korruption und Vetternwirtschaft besitzt.
Wir kennen diese Legitimationskrise aus anderen Ländern, auch in Europa
ist die Distanz zwischen Regierenden und Regierten in den vergangenen Jahren
immer größer geworden. Die große Frage ist, wie sich die Demokratie vor dem
Verfall retten lässt, ohne in autoritäre Regierungsformen abzurutschen. In der
politischen Landschaft Brasiliens gibt es niemanden, der eine Antwort parat
hat.
Am ehesten könnte eine Frau von der Krise profitieren, die bereits vor den
Wahlen 2010 zu einer ernstzunehmenden Rivalin für Präsidentin Rousseff auf-
gestiegen war: die ehemalige Umweltministerin und Präsidentschaftskandida-
tin Marina Silva.
Ex-Präsident Lula hatte die zierliche Politikerin aus dem entlegenen
Amazonas-Staat Acre während seiner ersten Amtszeit zur Umweltministerin
berufen. Sie trat nach zwei Jahren zurück, weil sie sich von Lula als Aushän-
geschild missbraucht sah; Lula unterstützte keine ihrer umweltpolitischen Ini-
tiativen. Silva zählt zum Urgestein der PT, sie hatte einst die Partei mitbegrün-
det. Die zierliche Frau, deren politische Durchsetzungskraft oft unterschätzt
wird, stammt aus einer bettelarmen Familie und schuftete in ihrer Jugend
unter anderem als Gummisammlerin und Hausangestellte. Nach ihrem Rück-
tritt schloss sie sich zunächst der Grünen Partei (PV) an, dort wurde sie jedoch
nicht heimisch: Brasiliens Grüne gelten als konservativ und waren bereits in
mehrere Skandale wegen Postenkungelei verwickelt. Bei der Präsidentschafts-
wahl 2010 bekam Silva so viele Stimmen, dass Lulas Favoritin Rousseff, der ein
Sieg im ersten Wahlgang vorausgesagt worden war, in die Stichwahl musste.
Silva hat sich schon vor Jahren mit den neuen Protestbewegungen auseinan-
dergesetzt, vor allem unter Studenten und jungen, urbanen Mittelschichtbrasi-
lianern ist sie sehr beliebt. Sie ist auf allen sozialen Medien präsent. Ihre neue
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