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20 Jahren entrichtet habe. Als steuerzahlender Bürger habe ich ein Anrecht
auf dieses Dokument, aber die Ausstellung dauert 20 Werktage. Ich benötig-
te das Papier jedoch schnell, weil meine steuerliche Behandlung in einer an-
deren Behörde davon abhing. Der Beamte, der meinen Antrag entgegennahm,
zeigte keinerlei Willen, die Ausstellung meines Dokuments zu beschleunigen.
Nötig war ein zusätzliches Argument, das möglichst auf persönlichen Motiven
beruhen sollte - die kranke Schwiegermutter, deren Zukunft aus irgendeinem
Grund von diesem Papier abhängt, das Verhältnis zur Ehefrau, das wegen dem
Papier auf dem Spiel steht, oder ähnliches. Wer es schafft, das überzeugend ge-
nug vorzutragen, erweicht den Beamten und bekommt das Dokument inner-
halb weniger Tage auch ohne Bestechung. Es hilft, wenn man beim Betreten ei-
ner Amtsstube nicht sofort auf sein Anliegen pocht, sondern den Beamten erst
mal mit einem freundlichen »Bom dia!« begrüßt. Das fällt leider vielen Deut-
schen schwer; sie stürmen in die Amtsstube, wedeln mit ausgefüllten Formula-
ren und belehren den Beamten über ihre Rechte und Pflichten. Damit läuft man
in Brasilien eigentlich immer gegen Wände.
Gesetze und Vorschriften sind flexibel, das ist eine für Europäer neue Erfah-
rung. Alles ist relativ und verhandelbar - und unterliegt dem Jeito.
Wie man das im Einzelfall ausgestaltet, hängt vom eigenen Geschick, der
Eloquenz, eventuell vom Geldbeutel, manchmal vom sozialen Status und oft
von Beziehungen ab.
Bei der Konfliktbewältigung im Alltag ist das Jeito sympathisch, weil es den
Umgang miteinander menschlicher gestaltet. Wenn es um die Vergabe von
Staatsaufträgen oder wichtigen Posten geht, zeigt sich jedoch seine dunkle Sei-
te: Dann steht das Wort meist für die eine oder andere Form von Korruption.
Auf Regierungsebene oder bei der Planung von Großereignissen wirken die
Jeito-Mentalität und der Hang zur Improvisation auf Dauer kontraproduktiv.
Das Jeito stammt wie so vieles in Brasilien aus Kolonialzeiten. In der Mon-
archie hatte der Untertan keine Chance, auf institutionellem Weg seine Proble-
me zu lösen. Unternehmer und andere Bittsteller bemühten sich deshalb um
einen privilegierten Kontakt bei Hofe. Wer Zugang zum Herrscher hatte - sei
es wegen familiärer Bande oder weil ihm jemand einen Gefallen schuldete -,
gewährte Bittstellern eine Art »Schirmherrschaft«. Der konnte sich auf ihn be-
rufen; mit Glück setzte er sich sogar selbst aktiv für sein Anliegen ein. Natürlich
war das kein selbstloser Akt: Der Bittsteller steht bei seinem Fürsprecher in der
Schuld, bei Bedarf wird dieser ihn um einen Gefallen bitten, den er nicht aus-
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