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Marquis de Sade (1740-1814)
Ein hoch aufragendes Gemäuer, bizarr und
ohne jede Symmetrie, mächtig und verfal-
len zugleich, steinern und dabei längst
überwuchert vom ganzen Wildwuchs des
Luberon, immer noch das kleine Lacoste
beherrschend, es mehr bedrohend denn
schützend, so wie es stets mehr Geißel des
Dorfes als seine Zierde war - darin also
hauste Donatien Alphonse François Marquis
de Sade. Hinter diesen Mauern also trieb es
der Weltgeschichte berühmtester Lüstling,
und die Töchter dieser Gassen dort unten
waren es, welche der sinnenfrohe Adels-
mann als Dienstmägde einstellte, um sie
missbraucht und geschändet zurückzu-
schicken, um Erfahrungen reicher, deren
bloße Erahnung die braven Leute von
Lacoste in tiefster Scham und ohnmächti-
gem Zorn erzittern ließ.
Man kann sich vorstellen, wie der Mar-
quis von den Zinnen seines mächtigen An-
wesens herab die Meute der Bauern er-
blickte, wenn sie mit Mistgabeln bewaffnet
den Berg heraufstürmte - er mag sie ver-
achtet haben, gefürchtet hat er sie wohl
kaum. De Sade war anderes gewohnt, weit
Ärgeres:
„Ja, ich gestehe, ich bin ein Wüstling, al-
les, was man sich auf diesem Gebiet vor-
stellen kann, habe ich mir vorgestellt, aber
ich habe durchaus nicht alles getan, was ich
mir vorgestellt habe, und werde es auch nie
tun. Ich bin ein Wüstling, aber ich bin we-
der ein Verbrecher, noch ein Mörder“, ver-
teidigte sich de Sade, als er 1780 im be-
rüchtigten Kerker von Vincennes einsaß -
ausgerechnet in einem Brief an seine Frau.
„Hinter 19 Türen eingesperrt“ fand sich der
Marquis im Übrigen auf Betreiben seiner
Schwiegermutter, die er weniger durch den
Skandal um eben jene Dienstmägde von
Lacoste vergrämt hatte, als vielmehr wegen
seiner leidenschaftlichen Affäre mit der
Schwester seiner Frau.
Neben der einflussreichen Schwieger-
mutter hatte der Marquis noch ein zweites
Problem: Der dekadente Adel des Ancien
Régime benutzte ihn als Prügelknaben, um
von der eigenen Doppelmoral abzulenken.
Ganz unschuldig war de Sade freilich nicht.
Zum Beispiel der Skandal von Marseille:
Obwohl er dort nur eine Geldsumme ab-
holen wollte, ließ er sich zu einer Orgie mit
seinem Diener und vier Prostituierten hin-
reißen und wurde später beschuldigt, seine
Liebesdienerinnen mit Aphrodisiaka regel-
recht vergiftet zu haben.
In insgesamt 27-jähriger Haft in Kerkern
und Irrenanstalt verfiel de Sade nicht etwa
in Resignation, sondern fühlte nun sein
„Gehirn in Glut“ geraten - die 16 dicken
Bände, die hinter diesen Mauern entstan-
den, sollten ihm zu literarischer Unsterb-
lichkeit verhelfen. Was sein ganzes Leben
lang immer wieder Anlass zu Aufsehen er-
regenden Skandalen gewesen war, das un-
gehemmte Erproben und Ausleben seiner
Fantasien, goss de Sade nun in ein systema-
tisches Gedankengebäude von Relativität
und Willkür aller Moral.
Vereinfacht formuliert, vertrat der Mar-
quis Rousseaus Maxime „Zurück zur Na-
tur“: Erst durch das hemmungslose Ausle-
ben der Sexualität erreiche der Mensch die
persönliche Freiheit, weshalb er sich nicht
nach Kategorien wie „normal“ oder „per-
vers“ zu richten habe. Für de Sade waren
sowohl die Zufügung von Schmerz als
auch die Erduldung von Grausamkeit legiti-
me Formen der Sexualität, weshalb man
den modernen Begriff Sadismus nach ihm
prägte.
In den Revolutionswirren erlangte der
Marquis zeitweilig seine Freiheit zurück,
doch wegen der Veröffentlichung seiner fri-
volen Werke wurde er alsbald wieder ver-
haftet und 1803 in die Irrenanstalt Charen-
ton eingeliefert, wo er 1814 starb.
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