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Siegeszeichen
und Schutzgeist:
der Schädelkult
der Kelten
„Der ganze Volksstamm, welchen man
jetzt den Gallischen oder Galatischen
nennt, ist kriegerisch und mutig und rasch
zum Kampfe geneigt, übrigens aber auf-
richtig und nicht bösartig. Deshalb laufen
sie, zum Zorn gereizt, scharenweise zum
Kampfe zusammen, offen und ohne Vor-
sicht, sodass sie (...) leicht besiegbar wer-
den. (...) Zu ihrer Torheit gehört auch der
barbarische und fremdartige Gebrauch (...),
dass sie, aus der Schlacht zurückkehrend,
die Köpfe der Feinde über den Hals der
Pferde hängen, mit sich nehmen und vor
der Haustür annageln.“
Bemüht um Objektivität, jedoch im Be-
wusstsein, selbst einer höher entwickelten
Kultur anzugehören, beschrieb der griechi-
sche Geschichtsschreiber Strabon (ca. 23 v.
bis 28 n. Chr.) nicht ohne Grauen den
Brauch der gallischen Kelten, ihren Feinden
die Köpfe abzuschlagen und sie als Sieges-
trophäen - ihre Spieße krönend oder am
Haarschopf unter den Pferdehalftern bau-
melnd - nach Hause zu führen.
Unter furchtbarem Geschrei und dröh-
nenden Siegeshymnen kehrte eine solche
Kriegerschar in die Stadt zurück, um die
Köpfe als Zeugnisse der Tapferkeit an den
Türen zur Schau zu stellen. Und da man mit
getöteten Tieren ebenso vorging, gemahn-
te eine keltische Siedlung nicht selten an
ein Leichenfeld.
Später wurden die Köpfe der besiegten
Anführer und anderer wichtiger Krieger
sorgsam einbalsamiert und ruhten dann,
nach Datum geordnet, in großen Truhen.
Das Sammeln dieser têtes coupées er-
scheint wie eine primitive Form von Ge-
schichtsschreibung: Je mehr und je bedeu-
tendere Köpfe eine Familie besaß, desto
höher war ihr Ansehen.
Auf den ersten Blick weniger spektakulär,
auf den zweiten dafür umso aufschlussrei-
cher ist die Verbindung des Kopfkultes mit
den keltischen Heiligtümern, den Sanktua-
rien. Die Türstürze dieser steinernen Säu-
lenhallen, damals bedeckt von Astwerk und
Ton, weisen in Entremont und Roqueper-
tuse eingearbeitete Nischen auf, in welche
die Kelten die abgetrennten Schädel ein-
ließen. Man geht davon aus, dass es sich bei
den têtes coupées der Sanktuarien eben-
falls um die abgeschlagenen Köpfe von
Feinden, jedoch auch um solche von be-
deutenden Stammesangehörigen handelte.
Anstelle der Nischen finden sich teilwei-
se auch Gravuren (mouriès), also in den
Stein gemeißelte Totenmasken mit ge-
schlossenen oder halb geöffneten Augen,
hart nach unten gezogener Nase und meist
ohne Mund: Der Atem des Toten ist ausge-
haucht, seine Sprache verstummt.
Der Totenschädelkult, der zunächst wie
primitive Barbarei erscheinen mag, steht
tatsächlich im Zentrum der keltischen Reli-
gion und Magie, ist Ausdruck eines in Bil-
dern und Symbolen denkenden Volkes,
dessen Sinnen und Trachten so sehr um
den Krieg, um die Schwelle von Leben und
Tod kreiste. Die Platzierung der Schädel
und Schädeldarstellungen ausgerechnet
am Eingang der Sanktuarien weist auf zwei-
erlei hin: Einerseits hatten sie das Heiligste
zu bewachen, andererseits sollten sie zur
jenseitigen Welt im Inneren des Tempels
hinüberleiten.
Für die Kelten war die Seele des Men-
schen untrennbar mit dem Schädel verbun-
den, und damit die Seele nicht entkommen
konnte, wurden die Schädel mumifiziert
und angenagelt. Der abgeschlagene Schä-
del war so nur in zweiter Linie ein Sieges-
zeichen: In der keltischen Geisteswelt spiel-
te er die Rolle des Todessymbols schlecht-
hin, jedoch die eines dem Leben zuge-
wandten, sollte es doch seinem Besitzer
Schutz gewähren und die in ihm wohnen-
de Geisteskraft übermitteln.
Zeugnisse dieses Kultes: Vor allem im
Musée Granet in Aix und in der Vieille Cha-
rité in Marseille. Die wichtigsten Sanktuari-
en: Entremont, Roquepertuse (Pays d'Aix)
und Mouriès (Alpilles).
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