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Wissenschaft und Wissenschaften
Es sah so aus, als verschaffte uns die Naturwissenschaft ein simples und einheitliches
Bild der Natur: Alles besteht aus kleinsten Materieteilchen, deren Eigenschaften und
Verhalten von ewigen mathematischen Gesetzen bestimmt wird. Die Physiker arbeiten
nach wie vor an einer Theorie von Allem und hoffen auf eine einheitliche Formel, die
alles Existierende anhand der Eigenschaften der subatomaren Teilchen und der auf sie
einwirkenden Kräfte erklärt. Alles ist letztlich auf Physik zurückführbar. Hier die konven-
tionelle Sicht der Dinge noch einmal in Lee Smolins Worten: »Zwölf Teilchen und vier
Kräfte - mehr brauchen wir nicht, um alles in der uns bekannten Welt zu erklären.« [599]
Dieser naive und überholte reduktionistische Glaube hat mit der Realität der Natur-
wissenschaften nichts zu tun. Physiologen reden nicht von subatomaren Teilchen, wenn
sie den Blutdruck erklären wollen, sondern von der Pumptätigkeit des Herzens, der Elas-
tizität der Blutgefäßwände und so weiter. Auch Sprachwissenschaftler haben es nicht mit
den Bewegungen subatomarer Teilchen in den Luftmolekülen zu tun, durch die sich die
Schallwellen des Gesprochenen fortpflanzen; sie studieren Wortmuster, grammatische
Strukturen, Bedeutungsstrukturen. Wenn sich Botaniker mit der Evolution der Pflanzen
befassen, stöbern sie nicht im Innern ihrer Atome, sondern vergleichen ihren Bau mit
lebenden und ausgestorbenen Arten. Oder in den Worten des Physikers John Ziman:
Je komplexer die betrachteten Strukturen werden - von Elementarteilchen und
Molekülen über einzellige und vielzellige Lebewesen bis hin zu ihrer selbst be-
wussten Menschen und ihren kulturellen Einrichtungen - desto klarer wird, dass sie
nach ganz anderen Prinzipien funktionieren. Das Verhalten komplexer Systeme ist
nicht aus den Eigenschaften ihrer Bestandteile abzuleiten, weshalb man eigen-
ständige »Sprachen« braucht, um sie wissenschaftlich beschreiben zu können. Damit
ist die Vielzahl unserer Naturwissenschaften das direkte Abbild des Universums, in
dem wir leben. [600]
Es gibt viele Naturwissenschaften und viele Naturen, und folglich gibt es nicht die wis-
senschaftliche Methode, sondern verschiedene Wissenschaften müssen unterschiedliche
Methoden anwenden. [601] Gestein untersuchende Geologen machen andere Beobachtun-
gen als Astronomen bei der Beobachtung ferner Galaxien mittels Radioteleskopen oder
als Biochemiker, die sich mit den Eigenschaften von Eiweißmolekülen befassen, oder als
Ökologen im Regenwald. Zu manchen Naturwissenschaften gehören Experimente, zu an-
deren nicht. Ein Astronom kann an einem Stern nichts ändern, um zu sehen, was dann
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