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Göttliche und menschliche Absichten
In der jüdisch-christlichen Tradition ist die Geschichte der Menschheit - und des Kosmos
- eine Reise mit einem Zielpunkt und Ende. Am Beginn steht die Schöpfung, in der bis
zum Sündenfall vollkommene Harmonie herrschte. Von da an gab es Mühsal, Leid, Miss-
gunst, Streit und Mord, aber auch Weisheit und Güte - kurz, es begann die Geschichte,
wie wir sie kennen. Alles läuft auf einen letzten Höhepunkt, eine Verwandlung zu, auf die
Erlösung am Ende. Am Ende der Geschichte werden das Paradies und seine Harmonie
wiederhergestellt.
In den alten Erzählungen ging es um den Weg des Volkes Israel aus der ägyptischen
Gefangenschaft und durch wüste Gegenden bis ins Gelobte Land, wo das Paradies neu
entstehen sollte.
Es kam ganz anders. Als das jüdische Volk im Gelobten Land ankam, war es nicht
menschenleer, sondern von Palästinensern bewohnt. Daraus entstanden damals wie
heute endlose Konflikte. So verlegte man denn das Ende der Geschichte in die Zukunft,
nämlich auf die Ankunft des Messias. Für die Christen war Jesus der Messias. Aber die
Geschichte ging weiter. Christliche Visionäre verlegten das Ende der Geschichte erneut
in die Zukunft, auf den Tag, an dem Christus zurückkehren und ein tausendjähriges
Paradies auf Erden einrichten würde.
Während des gesamten Mittelalters gab es in christlichen Ländern immer wieder
millennarische Bewegungen, die Norman Cohn 1957 in seiner klassischen Studie The
Pursuit of the Millennium (Die Sehnsucht nach dem Millennium) [278] beschrieb. Francis
Bacon, der erste und größte Prophet der modernen Naturwissenschaft, säkularisierte
diesen millennarischen Geist. Der Mensch selbst würde eine neue Reise ins Gelobte Land
in die Wege leiten, indem er sich die Natur unterwarf. Führend würde in dieser Bewe-
gung eine wissenschaftliche Priesterschaft sein, der es darum ging, »die Ursachen und
verborgenen Bewegungen der Dinge zu erkennen, das Herrschaftsgebiet der Menschheit
zu vergrößern und alles überhaupt Mögliche ins Werk zu setzen«. [279] Diese Vision des
Fortschritts durch Naturwissenschaft und Technik wurde zur Grundlage für die Philo-
sophie der Aufklärung. In ihrer kapitalistischen, kommunistischen und sozialistischen
Ausprägung beherrscht sie fast die gesamte moderne Welt.
Als im neunzehnten Jahrhundert die Evolution des Lebens und im zwanzigsten die
des Universums entdeckt wurde, weitete sich der Rahmen des menschlichen Fortschritts
beträchtlich, doch diese Entdeckungen vertieften auch die Kluft zwischen Mensch und
Natur. In der materialistischen Naturwissenschaft bestimmten menschliche Zielvorstel-
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