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Wie man auf einer Radtour Angina bekämpft
Ein Tuch (amerikanisch: „Bandana“) um den Hals binden, darüber ein paar Lagen Kü-
chenfolie. Zum Frühstück viel Obst. Halswehtabletten lutschen. Mindestens 90 Meilen Rad
fahren. Warmes Bier trinken. Früh schlafen gehen. - Außerdem nett zur Krankheit sein:
Wir nennen Stefans Angina liebevoll „Angie”.
92,5 Meilen zeigt Stefans Radcomputer am Ende dieses Tages an, meiner 151 Kilometer.
(Wir trauen uns in Sachen Distanz bis zuletzt gegenseitig nicht über den Weg!) Dabei wa-
ren 42 km/h Durchschnittsgeschwindigkeit auf der Ebene (mit etwas Hilfe von hinten) kei-
ne Seltenheit.
Morgen Abend werden wir, wenn alles gut geht, in Ludington sein, von wo die einzige
Fähre über den See setzt. Chicago schauen wir uns ein andermal an. Die entsprechenden
Warnungen (Tenor: „Chicago sehen und sterben“) haben wir diesmal ernst genommen.
Große Städte sind per Drahtesel sowieso kein Vergnügen. Aber angeblich hätte man uns
ohnehin das Rad unterm Arsch weggeklaut …
Zu meiner Verwunderung habe ich festgestellt, dass man sich an den verdammten Sattel
und die extrem unbequeme Triathlon-Haltung tatsächlich gewöhnen kann. Eine halbe
Stunde kann ich jetzt schon in dieser kraftsparenden „Tieffliegerstellung“ durchhalten, oh-
ne dass Krämpfe, eingeschlafene Glieder oder sonstige Beschwerden auftreten. Mittlerwei-
le komme ich mir fast wie ein Shaolinmönch vor - die suchen sich angeblich auch eine
möglichst schmerzhafte Stellung zum Meditieren aus, wenn sie Genügsamkeit trainieren
wollen.
Genügsam sind wir zweifellos geworden. Unsere Ansprüche und unsere Vorstellungen
von Glück und Zufriedenheit haben sich auf einfache Dinge reduziert. Nicht Geld, Juwelen
oder Edelsteine sind die Einheiten, die in dieser Welt Bedeutung haben oder an denen
sich der Erfolg unseres Daseins bemessen lässt. Die neuen Kategorien lauten: Essen, Wär-
me und Trockenheit. Und vielleicht noch die geradezu himmlische Gnade, trotz eines ver-
dammt miesen Wetterberichts vom Regen verschont zu bleiben.
Unheilschwangere Regenwolken hängen den ganzen Tag triefbereit über Michigan. Als
wir gegen 18 Uhr Evart erreichen, haben wir immerhin fast 82 Meilen zurückgelegt. Wäh-
rend wir die Suche nach einem Quartier starten, fängt es auf einmal leicht zu tröpfeln an.
Aber wir wissen, dass es sich ausgehen wird. Wir werden nicht nass werden. Heute nicht!
Wir haben vorsichtig kalkuliert.
Noch so ein Regentag wie gestern hätte mich umgebracht.
Im „Township Center“ finden wir freundliche Aufnahme. Ein Mann (ein Cop in Zivil! -
Das mit der Polizei erzählt er uns aber erst hinterher …) lässt zuerst sein Lächeln und dann
seine Beziehungen für uns spielen („We'll find something. After all this is America!“) und
schickt uns - nach einem entlarvenden Blick - in ein Heim für schwer erziehbare Kinder.
Der einzige Haken: Die Besserungsanstalt liegt nicht in Evart, sondern in Eagleville, lä-
cherliche elf Meilen von hier. Die Unterkunft ist dafür natürlich umsonst.
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