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6.5 Der thermische Zustand der Erdkruste
6.5.1 Globale Variation
des terrestrischen Wärmestroms
In der Erdkruste nimmt die Temperatur mit der Tiefe we-
niger gleichförmig zu als im Erdmantel und -kern und
weist große laterale Variationen auf. Diese hängen stark
vom Gehalt an radioaktiven Isotopen in den Gesteinen ab
(siehe Abschn. 6.3.2 ) und von den tektonischen und hy-
drogeologischen Verhältnissen. Typischerweise variieren
mittlere Werte für den vertikalen Temperaturgradienten von
10Kkm 1 -60Kkm 1 für eine kontinentale Kruste von
25 km-45 km Mächtigkeit. In der nur 5 km-8 km dünnen
ozeanischen Kruste werden diese Werte durch hydrotherma-
le Aktivität oft deutlich überschritten. Das Temperaturfeld
der kontinentalen Kruste ist durch Messungen in Bohrun-
gen erfasst und wurde für zahlreiche Regionen der Erde
kartiert. Diese Karten, Atlanten und digitalen Datenban-
ken dokumentieren allgemein die regionale Variabilität
der Temperatur der Kruste. Eine spezifischere Darstel-
lung des lokalen Temperaturfelds erfordert in der Regel
zusätzliche Analysen des thermischen Zustands. Diese ba-
sieren auf analytischen oder numerischen Modellierungen
auf der Grundlage von Messwerten der thermischen Ei-
genschaften der lokal vorherrschenden Gesteine, wie z. B.
Wärmeleitfähigkeit, thermische Diffusivität, spezifische
Wärmekapazität, Dichte und radiogene Wärmeproduktions-
rate.
So überraschend dies auch erscheinen mag, ist die Er-
de nur bis zu weniger als 1‰ ihres Durchmessers durch
Bohrungen erkundet: Die tiefste Bohrung der Welt, SG-1
auf der russischen Kola-Halbinsel, erreicht gerade einmal ei-
ne Tiefe von 12 262m. Dagegen haben Raumschiffe unser
Universum bereits über die Grenzen unseres Sonnensystems
hinaus durchquert und erforscht. Unglücklicherweise ste-
hen zudem Daten aus kommerziellen Bohrungen, die bis
in Tiefen von einigen Kilometern reichen, selten für wis-
senschaftliche Auswertungen zur Verfügung. Daher wurde
die überwiegende Mehrzahl der marinen und kontinenta-
len Daten aus Messungen mit nur um wenige Meter in
die Tiefseesedimente eindringenden Wärmestromdichteson-
den bzw. in Flachbohrungen von einigen hundert Metern
Tiefe gewonnen. Aus diesem Grund enthält die aus diesen
Daten berechnete Wärmestromdichte zusätzlich die ther-
mischen Signaturen einer Vielzahl von sowohl stationären
als auch instationären Faktoren und Prozessen: Topografie,
Kontraste in den thermischen Eigenschaften des heterogenen
Untergrunds, Grundwasserströmung, paläoklimatische Va-
riationen der mittleren Erdoberflächentemperatur und wei-
tere. Diese müssen sorgfältig berücksichtigt werden, wenn
Werte der Wärmestromdichte für thermische Berechnun-
gen verwendet werden, insbesondere für Extrapolationen der
Temperatur über erbohrte Tiefen hinaus.
Eine aus dem Temperaturfeld und der Wärmeleitfähigkeit
abgeleitete Größe ist die Vertikalkomponente der Wärme-
stromdichte ( 6.78 ) , in der englischsprachigen Literatur oft
verkürzt als heat flow bezeichnet 74 . Eine globale Unter-
suchung und Kartierung der Wärmestromdichte, der auf
38 347 Messungen auf der ganzen Welt beruhenden, auf Zeit
und Fläche normierten Wärmeabgabe über die Erdoberflä-
che (Davies & Davies 2010 ) , zeigt eine bemerkenswerte
Variabilität, aber auch charakteristische Trends (Abb. 6.4 ) .
Im Allgemeinen nimmt die Wärmestromdichte mit dem Al-
ter der Gesteine ab: Sie ist in alten stabilen Plattformen im
Mittel um einen Faktor von ca. 1,5 geringer als in junger,
tektonisch aktiver Kruste (Abb. 6.19 ) . Folgerichtig ist die
mittlere Wärmestromdichte in den im Allgemeinen jungen
Ozeanen mit 105,4mWm 2 höher als auf den Kontinenten
mit 70,9mWm 2 . Hierbei sind allerdings einige Einschrän-
kungen angebracht:
Zum einen ist die zugegebenermaßen beeindruckende
Zahl von Messpunkten sehr ungleich über Kontinente und
Ozeane verteilt. Insbesondere sind neuere Messkampagnen,
in denen viele Daten entlang von Profilen ermittelt wurden,
häufig auf tektonisch oder anderweitig interessante Frage-
stellungen ausgerichtet. Da diese in der Regel mit einem
erhöhten Wärmefluss verbunden sind, ist diesen Studien
eine Tendenz zur stärkeren Gewichtung höherer Wärme-
stromdichten zu eigen. Zum anderen sind die Dicke der
Sedimentbedeckung und ihre hydraulische Permeabilität von
entscheidender Bedeutung für das Auftreten der als hydro-
thermale Ventilation bezeichneten Verbindung der thermisch
angetriebenen freien Konvektionssysteme im ozeanischen
Grundgebirge mit dem Ozeanwasser: Um diese zu unter-
binden, werden 150m-200m mächtige Sedimentschichten
als erforderlich angesehen (Spinelli et al. 2004 ; Hasterok
et al. 2011 ) . Eine weitere Tendenz zu höheren Wärmestrom-
dichten rührt daher, dass einerseits die Sedimentmächtigkeit
mit dem Alter (und damit der Entfernung von den Sprei-
zungsrücken) zunimmt, andererseits aber sich die Mehrzahl
der Messpunkte, zumindest im Pazifischen und Indischen
Ozean, auf relativ junger Ozeankruste befinden.
74 Die verkürzte Bezeichnung „Wärmestrom“ ( heat flow ) enthält kei-
nen Hinweis auf die Flächennormierung (ganz abgesehen davon, dass
meist nur die Vertikalkomponente gemeint ist). Dies gilt auch für den
manchmal alternativ verwendeten Ausdruck Wärmefluss ( heat flux ).
Korrekt (und sprachlich befriedigend) wäre die Bezeichnung specific
heat flow ,analogzu specific discharge , für die zur Wärmestromdichte
homologe Grundwasser-Filtrations- bzw. Darcy-Geschwindigkeit (sie-
he Abschn. 7.10.4 im Anhang). Die Übersetzung des im Deutschen
zutreffenden Ausdrucks Wärmestromdichte als heat flow density wird
von den meisten Muttersprachlern nicht akzeptiert und hat sich in der
internationalen Literatur nicht durchgesetzt.
 
 
 
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