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unsere Eltern haben scheiden lassen, ausgepackt. Völlig übertrieben, wie ich immer noch
finde. Ich merke, wie ich wütend werde, wenn ihr nur daran denke. Aber auch wenn
beides maßlos übertrieben ist, eine Nuance an Wahrheit steckt dahinter und bietet im-
mer wieder Streitpotenzial: Während Paul der Meinung ist, dass man zu seinen eigenen
Gunsten auch mal das Risiko eingehen kann, jemandem auf den Schlips zu treten, versu-
che ich stets, jeden Streit zu vermeiden, und tue mir damit selbst Unrecht. Der Streit
ging also um eine wirklich tiefgreifende Meinungsverschiedenheit, und umso besser war
es, dass wir es beide auch genau so erkannt und es tatsächlich geschafft haben, einen
verträglichen Kompromiss zu beschließen. Wir wollen einerseits den anderen in stärke-
rem Maße akzeptieren, wie er ist, und andererseits dem anderen entgegenkommen,
wenn es wieder einen solchen Streitpunkt gibt. Mal sehen, wie das demnächst klappt.
Shymkent, das haben wir schon von vielen Leuten in den letzten Tagen gehört, ist als
Gangsterstadt verschrien und je näher wir darauf zufahren - spätestens übermorgen soll-
ten wir dort sein - desto mulmiger wird uns. Ich muss zugeben, vielleicht war die Waf-
fenidee gar nicht so aus der Luft gegriffen, wie es vorhin noch schien. Vor allem nach
der Sache mit Sasch hatten wir lange Unterhaltungen darüber, ob es Sinn machen wür-
de, sich auf irgendeine Art zu bewaffnen, als reine Selbstverteidigungsmaßnahme natür-
lich. Wir sind immer zu dem Schluss gekommen, dass uns eine Waffe letztlich mehr
schaden als helfen würde. Das Einzige, das wir tun können, ist, mithilfe des um den
Zeltplatz gespannten Fadens und eines wackelig auf dem Sattel abgestellten Kochtopfes
ab und zu eine Warnfallen, um unser Zelt aufzubauen, wenn wir uns unsicher fühlen.
Während wir auf Shymkent zufahren, passieren wir mehrere Saufgelage - Männer-
gruppen, die wie die Reiher in den schlammigen Bächlein am Rand der Straße stehen,
sich kaltes Wasser um die Waden laufen lassen und dazu Bier trinken. Die kühlen sich
von oben und unten, sozusagen. Jede Gruppe tut ihr Bestes, uns zu sich zu rufen. Sie
winken mit den Bierflaschen in der Hand und grölen: »Otkuda? - Otkuda?« : »Woher
kommt ihr?« Und dann mit einer Geste Richtung Bierflasche: »Trinkt mit uns mit!« Wir
lehnen lachend ab. Natürlich können wir uns nichts Besseres vorstellen, als in einem
kühlen Bewässerungskanal zu stehen und kaltes Bier zu trinken, aber unser Visum läuft
in wenigen Tagen ab, und wir wollen raus aus Kasachstan, ab in die Berge nach Kirgisis-
tan.
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