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das kleine Fensterchen. Die Frau hinter dem Fenster lacht laut auf. Sie hat den Ernst der
Lage sofort erkannt und händigt mir jeweils sechs zum gleichen Preis aus. »Gute Besse-
rung«, gibt sie mir mit einem Augenzwinkern zu verstehen, ich grinse durch meine
dunkle Radbrille zurück, nehme die zwei warmen Papiertüten und drehe meinen
schmerzenden Kopf vorsichtig in Richtung Hotel.
Nach unserem Katerfrühstück verfallen wir bis vier Uhr nachmittags in ein tiefes Ver-
dauungskoma - der Tag ist gelaufen, und auch der klägliche Versuch, noch in das örtli-
che Heimatmuseum zu gehen, scheitert. Aber irgendwie tat es gut, mal wieder fast den
ganzen Tag im Bett zu verbringen. Der krisselige Fernseher läuft, eine Frau preist Sachen
in einer Sprache an, die wir nicht verstehen. Schon lange nicht mehr in einen richtigen
Bildschirm geschaut, fällt mir dabei auf.
Während ich zu Hause manchmal das Gefühl habe, keine halbe Stunde ohne meinen
Rechner auszukommen, haben sich die Bedürfnisse auf der Tour verschoben. Was ist
mir wichtig momentan? Ich meine: wirklich wichtig? Es sind ganz essentielle Sachen:
Essen, Trinken, Schlafen, Vorwärtskommen, Gesundheit. Was ich vermisse? Ich vermisse
vieles, aber ganz andere Dinge als erwartet. Ich vermisse nicht meinen Computer, den
ich täglich nutze, sondern das Klavier, dass ich viel zu selten spiele. Nicht mein Bett,
sondern den Balkon. Es gibt vieles, das meinen Lebensalltag zu Hause ausmacht, und ich
vermisse so wenig davon? Warum freue ich mich mehr auf die Dinge, die ich zu Hause
selten mache, als auf die Dinge, die regelmäßiger Bestandteil meines Lebens sind? Ich
glaube, wenn die alltäglichen Pflichten sich im Wesentlichen auf Wasserbeschaffen, Es-
sen und Schlafen beschränken, findet eine Art »Komplett-Reset« statt. Alle festgefahre-
nen Lebensprogramme werden beendet, das gesamte System wird in eine Art Sparbe-
trieb gebracht, sodass ein Neustart möglich ist. Ich werde nach meiner Rückkehr nach
Berlin zuerst die »Programme« ausführen oder die Sachen machen, die unabhängig von
der Gewohnheit für mich am wichtigsten sind - Segeln, Basketball spielen, Musik ma-
chen und so viel wie möglich in die Natur gehen. Einige werde ich sicherlich wieder
aufnehmen, einfach weil ich dann nicht mehr allein bin, sondern meine Freunde, meine
Familie um mich habe. Aber viele Dinge, wie das tagelange Vor-dem-Computer-Sitzen
und das Immer-erreichbar-Sein, werden hoffentlich auf ewig verbannt sein.
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