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Wir lachen. Das tut gut, denn in den letzten Tagen hatten wir ständig dumme Streite-
reien, manchmal ganz schön heftige. Immerhin haben wir uns auch immer wieder ge-
zwungen, danach miteinander zu reden, um endlich näher an die tieferliegenden Grün-
de für diese Auseinandersetzungen zu kommen. Uns ist klar geworden, dass wir wie ein
altes Pärchen sind, das schon seit dreißig Jahren miteinander verheiratet ist und jetzt eine
ausgewachsene Beziehungskrise hat. Und wenn wir normalerweise einen Fluchtweg hät-
ten, uns in unser Zimmer zurückziehen oder uns bei Freunden über die Dummheit des
Bruders ausheulen könnten, bleibt uns hier nichts anderes übrig, als es durchzustehen
und den Dingen auf den Grund zu gehen. Wie sonst sollen wir die nächsten 10000 Kilo-
meter schaffen?
Ich lerne meinen Bruder auf eine Art kennen, die mir bisher fremd war. Ich hatte im-
mer den Eindruck, dass Paul und ich unglaublich unterschiedlich sind, und fand das im-
mer gut. Aber je länger wir unterwegs sind, desto mehr verstehe ich, was der Grund für
die meisten Streitereien ist: dass ich Pauls Eigenarten nicht wirklich akzeptieren kann. Ich
wünsche mir, dass wir uns mehr ähneln. Das ist komisch, weil wir als Kinder immer
nach Unterschieden gesucht haben und vor allem von anderen möglichst unterschiedlich
wahrgenommen werden wollten. Es ist einfach anstrengend und oft auch verletzend,
wenn man als Zwilling immer als eine Person angesehen wird. Jeder von uns hat seine
Eigenarten, und wenn Paul etwas auf eine Art macht, die mir stinkt, dann versuche ich,
ihn auf meinen Weg zu bringen, und umgekehrt genauso. Es ist für mich schon überra-
schend, dass wir offenbar einen tiefen inneren Wunsch nach Ähnlichkeit haben und uns
zugleich unterscheiden wollen. Ein Dilemma. Aber ich lerne daraus, Paul stärker zu ak-
zeptieren, wie er ist.
Der gestrige Tag war wieder einer dieser Höllenritte. Und er wurde am Nachmittag
noch von einem heftigen Gewitter dramatisch untermalt. Das Gewitter war derart stark,
dass wir uns in eine Abflussröhre unter der Straße flüchten mussten, aus Angst, unsere
Fahrräder könnten vom wütenden Zeus als Blitzableiter missverstanden werden. Nach-
dem der letzte Donner vergrollt war und vom sturzartigen Regen nur noch seeartige
Pfützen übrig geblieben waren, wurde die Luft unbeschreiblich frisch und klar. Die vor-
her drückende Schwüle war durch das Gewitter angenehm abgekühlt, beste Vorausset-
zungen für einen kleinen Sprint, der dann in ganze 35 Kilometer ausgeartet ist. 35 Kilo-
meter lang haben wir alles gegeben, und das mit knapp 60 Kilo Gepäck pro Rad. Und es
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